Carsten Kretschmann: Zwischen Spaltung und Gemeinsamkeit. Kultur im geteilten Deutschland (= Deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert; Bd. 12), Berlin: BeBra Verlag 2012, 200 S., 20 Abb., ISBN 978-3-89809-412-2, EUR 19,90
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Den Geschmack Ludwig Erhards habe Sep Ruf mit seiner Ausführung des Wohngebäudes im Bonner Bundeskanzleramt ziemlich gut getroffen. Um einen Bungalow im Stil der klassischen Moderne habe es sich gehandelt, "als Ausdruck eines Verständnisses von Politik und Macht, das ebenfalls auf Solidität, Nüchternheit und Transparenz gegründet war". (64) Hier sei die Staatsräson der Bundesrepublik äußerst knapp auf den Punkt gebracht worden.
Die Ausführungen über den Bonner Kanzlerbungalow sind typisch für die von Carsten Kretschmann vorgelegte deutsche Kulturgeschichte, welche sich von 1945 bis zum Ende des Kalten Kriegs und in Form eines kurzen Ausblicks auch auf die Zeit nach der Wiedervereinigung erstreckt. Kretschmann bindet künstlerische Ausdrucksformen bzw. kulturelle Erscheinungen in den politischen bzw. gesamtgesellschaftlichen Kontext ein und schlägt entsprechende Bögen. Zugrunde liegt ein sehr weiter Kulturbegriff, der neben "Hochkultur" auch "Massen- und Populärkultur" umfasst und "übergreifende kulturelle Prägungen, Mentalitäten und Weltbilder" sowie das "Verhältnis zwischen Kultur und Politik" in den Blick nimmt. (9) Eine abstraktere Definition, was unter "Kultur" zu verstehen ist, bietet der Autor allerdings nicht an. Auch Felder, die man eher der Sozialgeschichte zuordnen würde, werden von Kretschmann in die Betrachtung einbezogen.
Einleitend stellt er fest, dass Kultur sowie Kulturpolitik in der Zeit der deutschen Teilung eine Brückenfunktion gehabt habe, jedoch insgesamt eher durch Spaltung gekennzeichnet gewesen sei und der Historiker sich hüten solle, "Kontinuitäten und Kohärenzen zu entwerfen, die von den Quellen nicht gedeckt sind". (9) Dennoch legt er Wert darauf, Bundesrepublik und DDR in seiner Darstellung nicht getrennt voneinander zu betrachten.
Die Entwicklungen und Erscheinungen der deutschen Nachkriegskultur werden in vier größeren, der Chronologie folgenden Kapiteln dargestellt. Als Orientierung und Abgrenzung dienen Zäsuren, die zwar in erster Linie politisch sind, jedoch natürlich in unmittelbarer Wechselwirkung mit Kultur und Gesellschaft stehen. Innerhalb dieser Kapitel werden Schwerpunkte gesetzt, die die kulturellen Entwicklungen des jeweiligen Zeitabschnitts vergegenwärtigen sollen. Der Blick wird immer wieder auf verschiedene Bereiche gelenkt, es kommt zwangsläufig zu Redundanzen oder häufigeren Verweisen auf bereits in vorangegangenen Passagen Abgehandeltes. Auf diese Weise werden zwar Gleichzeitigkeiten und Verzahnungen deutlich, allerdings auf Kosten von Entwicklungen innerhalb einzelner künstlerischer oder kultureller Richtungen, welche sich über die gesamte hier betrachtete Epoche erstrecken.
Im ersten größeren Abschnitt wendet sich Kretschmann der "Trümmerkultur" zu. Nicht ganz überraschend stellt er fest, dass das Schlagwort von der "Stunde Null" eben nur ein Schlagwort gewesen sei, welches "vor allem eine psychologische Entlastungsfunktion erfüllt" habe (13). Namen wie Gustaf Gründgens oder Wilhelm Furtwängler stehen stellvertretend für herausragende Persönlichkeiten des Kulturlebens der Nachkriegszeit, die auch in der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft ihre - künstlerisch nicht in Frage stehenden - Talente erfolgreich entfalten konnten. Der Preis war natürlich zumindest ein Arrangement mit dem Regime. Kretschmann versucht derartiges mit nicht immer ganz gelungenen Formulierungen zu unterstreichen, etwa wenn er Furtwängler als "des Teufels Kapellmeister" (14) tituliert. Auch später wird auf die "bruchlos fortgeführten Karrieren" (25) in verschiedenen Bereichen oder die "mangelnde Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit" (74) insgesamt verwiesen. Hier könnte man durchaus fragen, was eine "gelungene Aufarbeitung" ausgemacht hätte.
Zur Sprache kommen für den Zeitraum unmittelbar nach Kriegsende die unterschiedlichen kulturpolitischen Bestrebungen der jeweiligen Besatzungsmächte sowie die Anknüpfungs- oder Ansatzpunkte, welche aus dem Exil Zurückgekehrte oder in der NS-Zeit zurückgezogen Lebende suchten. Zu letzteren zählt etwa Friedrich Meinecke mit der schnell wieder versunkenen Idee der "Goethegemeinden". Unterstrichen wird zudem, dass in den ersten Nachkriegsjahren eine gesamtdeutsche Perspektive nicht in Frage stand.
Das zweite und umfangreichste Kapitel, welches den Zeitraum von 1949 bis 1965 abhandelt, ist mit "Moderne Zeiten" überschrieben. Betont wird die Rolle der "Provinz" für die kulturelle Entwicklung in beiden Teilen Deutschlands, ein Phänomen, welches tiefere historische Wurzeln hat. Verwiesen wird beispielsweise auf Weimar oder die überspitzt als "provinziell im besten Sinne" (46) charakterisierte Gruppe 47, welche ihre bis 1967 stattfindenden Tagungen stets in kleineren Orten veranstaltete.
Die Integration der Bundesrepublik in das westliche Bündnissystem und die Erfolgsgeschichte der "Westernisierung" war nach Kretschmann - der sich hier von Heinrich August Winkler abgrenzt - der "kurze Weg nach Westen" (47). Deutlich benannt werden die diesbezüglichen amerikanischen Initiativen, etwa die Gründung bzw. Förderung von Zeitschriften wie Der Monat oder von Einrichtungen wie dem Kongress für Kulturelle Freiheit.
Zur Sprache kommen die Konsumkultur, Helmut Schelskys Stichworte von der "nivellierten Mittelstandsgesellschaft" und der "skeptischen Generation" auf der einen Seite, auf der anderen Seite der "Bilderstreit" zwischen dem in der DDR von Walter Ulbricht verordneten "Sozialistischen Realismus" und der abstrakten Kunst, welche sich in der Bundesrepublik gegenüber dem bereits als veraltet empfundenen Expressionismus sowie dem Surrealismus immer mehr durchgesetzt habe. Die deutsche Teilung habe sich auf dem Gebiet der Kultur immer stärker vertieft.
In einem dritten Teil werden die Jahre 1966 bis 1982 behandelt: Die "Frankfurter Schule", der ein Einfluss auf die Massenkultur versagt geblieben sei, Georg Pichts verhängnisvolle Prophezeiung einer "Bildungskatastrophe" sowie natürlich "1968", die außerparlamentarische Opposition, die entstehenden neuen sozialen Bewegungen und schließlich der Wertewandel der 1970er Jahre, unter anderem vor dem Hintergrund der Ölkrise. Als Paradoxon konstatiert der Autor, dass "gerade die Studentenrevolte mit ihren teils antipluralistischen Tendenzen entscheidend zu einer umfassenden Pluralisierung der westdeutschen Gesellschaft beigetragen hat". (117) Veränderungen seien beispielsweise im Bereich der Literatur deutlich, wo "Selbstfindung" zunehmend an die Stelle politischer bzw. sozialkritischer Texte getreten sei. Charakteristisch für die DDR sei (weiterhin) die Degradierung der Kultur "zu einem politischen Bekenntnisraum gewesen" (135), trotz einzelner Freiräume. Die eigenwillige Gestaltung des "Bauernkriegspanoramas" in Bad Frankenhausen durch den Maler Werner Tübke versteht Kretschmann als "Grenzgang besonderer Art" (139).
Das vierte und letzte größere Kapitel ist mit "Der kleine Grenzverkehr 1983-1989" überschrieben. Hier behandelt Kretschmann unter anderem den Komplex "Geschichtspolitik und Erinnerungskultur" (146-153). Die DDR habe plötzlich neben verschieden historischen Persönlichkeiten auch Preußen "entdeckt". Dieses "Erbe" sei für die Vorgeschichte einer erstrebten "DDR-Nation" in Anspruch genommen worden. In der Bundesrepublik hingegen habe es über die von Dolf Sternberger angeregte Hilfskonstruktion des "Verfassungspatriotismus" den Versuch der Begründung einer kollektiven Identität gegeben, bei der eine Antwort auf die nationale Frage umgangen worden sei. Was den Bereich der Kultur insgesamt betrifft, so seien in der letzten Phase der Teilung, auch im Zusammenhang mit dem entsprechenden deutsch-deutschen Abkommen vom Mai 1986, Annäherungen auszumachen gewesen. In einem abschließenden, kurzen Blick auf die Zeit nach der Wiedervereinigung stellt der Autor dann noch fest, dass das institutionelle Zusammenwachsen im Kulturbereich als erfolgreich bezeichnet werden könne, während die emotionale Distanz schwerer zu überwinden sei.
Ein Gesamturteil fällt schwer. Carsten Kretschmann hat seine Darstellung mit einer hier nur angedeuteten Vielzahl von Einzelbeispielen gefüllt bzw. Einzelkomplexe abgehandelt, die zu Recht ihren Platz in einer deutschen Kulturgeschichte der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts haben. Bildende Kunst und Literatur werden deutlich stärker in den Fokus gerückt als darstellende Künste und Musik. Nahezu jede Erscheinung wäre einer weit längeren Ausführung wert gewesen. Genannt seien etwa der Maler Emil Nolde - von der NS-Propaganda als "entartet" diffamiert und erst nach 1945 wieder zu großer Anerkennung gekommen, kurioserweise jedoch selbst eifriger Nationalsozialist; oder die Nebeneinanderstellung der Anliegen Wolfgang Koeppens und Heinrich Bölls - bei wohltuender Betonung der wesentlich höheren literarischen Qualitäten des Ersteren. Einerseits erschweren die im Buch "untergebrachten" Fakten und Namen die Übersichtlichkeit bezüglich der großen Linien erheblich, was gerade in Anbetracht des größeren Leserkreises, welchen die Reihe "Deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert" im Blick hat, von Bedeutung ist. Andererseits irritiert das gänzliche Fehlen von Namen wie etwa Arno Schmidt oder Hilmar Hoffmann. In Rechnung ist aber zu stellen, dass Kretschmann von vorn herein nur 200 eher großzügig bedruckte Seiten (inklusive Fußnoten) zu Verfügung standen, während thematisch ähnliche Kulturgeschichten anderer Autoren wesentlich umfangreicher konzipiert sind. [1]
Anmerkung:
[1] Vgl. etwa Hermann Glaser: Deutsche Kultur 1945-2000, München / Wien 1997, 575 Seiten oder Axel Schild / Detlef Siegfried: Deutsche Kulturgeschichte. Die Bundesrepublik von 1945 bis zur Gegenwart, München 2009, 696 Seiten.
Erik Lommatzsch