Hans-Peter Schwarz (Hg.): Die Fraktion als Machtfaktor. CDU/CSU im Deutschen Bundestag 1949 bis heute, München: Pantheon 2009, 368 S., ISBN 978-3-570-55107-3, EUR 16,95
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"Ein Fraktionschef reitet zwar nicht eben einen Tiger, aber doch einen Mustang, der gerne durchgeht." (285) Helmut Kohl und Rainer Barzel auf wilden Pferden? Angela Merkel schwingt das Lasso? Die Assoziationsbösartigkeit wird hier und an verschiedenen anderen Stellen dieses Buches (beabsichtigt?) zum Feiern so manch fröhlicher Urständ verleitet. Geglückte Metaphorik hin oder her, Hans-Peter Schwarz hat mit "Die Fraktion als Machtfaktor" einen faktenreichen und zugleich gut lesbaren Sammelband herausgegeben. Es handelt sich um eine Art Festschrift, die auf Anregung der CDU/CSU-Fraktion entstand. Anlass war das 60. Jubiläum der Fraktion, die am 1. September 1949 zu ihrer konstituierenden Sitzung zusammentrat.
Dargestellt wird in mehreren Einzelbeiträgen vor allem die (Ereignis-) Geschichte der CDU/CSU-Fraktion von 1949 bis zum Jahr 2009. Abgerundet ist das Ganze durch einen die gesamte Zeit umfassenden Beitrag über die nicht immer unproblematische Fraktionsgemeinschaft von CDU und CSU sowie eine zusammenführende Analyse.
Mit Blick auf die Institution, auf deren Initiative hin der Band entstanden ist, überrascht es wenig, dass die Autorenliste ausschließlich Historiker und Politologen umfasst, die die CDU/CSU-Politik sicher nicht unkritisch, aber doch eher wohlwollend betrachten. Dennoch liest man die Beiträge mit Gewinn. Die besondere Schwierigkeit beim Thema "Fraktion" liegt vor allem darin, die Entwicklung dieser Gruppierung in die Parteigeschichte von CDU und CSU, die Geschichte der Bundesregierungen - sofern Kanzler respektive Kanzlerin von der CDU gestellt wurden - sowie die allgemeine Geschichte der Bundesrepublik einerseits einzubetten und die personellen Verknüpfungen im Blick zu behalten, andererseits aber auch deutlich abzugrenzen und die Linien nachzuzeichnen, die vor allem für die Fraktion von Bedeutung waren. Auch die Tatsache, dass Fraktionsmitglieder "gewissermaßen ein doppeltes Mandat besitzen" (278), nämlich einerseits als Kandidaten durch die Partei aufgestellt werden, andererseits aber ihre Legitimation durch den Wähler erfolgt, zeigt, wie komplex die Materie ist.
Eingebettet in die chronologisch angeordneten Beiträge werden die einzelnen Fraktionsvorsitzenden porträtiert, beispielsweise Heinrich von Brentano, der frühzeitig auf das Amt des Außenministers spekulierte, folglich an der "Kette seines Ehrgeizes" (23) lag und es vermeiden musste, sich in allzu großen Gegensatz zu Adenauer zu bringen. Oder etwa der prinzipienfeste Heinrich Krone, von dem Hans-Peter Schwarz schreibt, es spreche einiges für die These, er sei zwischen 1955 und 1961 "der zweitmächtigste Politiker der damaligen Bundesrepublik" (24) gewesen. Auch unterschiedliche Führungsstile werden sichtbar. Deutlich wird dies beim Vergleich von Alfred Dregger mit seinem Vorgänger Helmut Kohl im Amt des Fraktionsvorsitzenden: Kohl habe verschiedene Meinungen angehört, dann die Positionen gebündelt und die Richtung angegeben, während Dregger zunächst die eigene Ansicht dargelegt und damit von Anfang an die Linie bestimmt habe.
Einige der großen Themen und Ereignisse der Geschichte der Bundesrepublik sind besonders eng mit der CDU/CSU-Fraktion verbunden. So war es insbesondere die Fraktion, die Konrad Adenauer 1963 und drei Jahre später Ludwig Erhard zum Rücktritt drängte - "Zweimal Kanzlersturz" hat Peter März seinen Beitrag überschrieben. Die Atlantiker-Gaullisten-Kontroverse zeichnet Torsten Oppelland knapp und übersichtlich nach. Im Resümee wird unterstrichen, dass das rasche Verschwinden des Gegensatzes nach 1966 deutlich zeige, dass die "bundesdeutsche Außenpolitik nie wirklich eine Wahl zwischen Washington und Paris hatte." (83) Unter den Bedingungen des Kalten Kriegs sei zwar alles auf ein "sowohl als auch" hinausgelaufen, jedoch habe das Schwergewicht eindeutig bei den USA gelegen. Die Atlantiker durften sich bestätigt fühlen. Werner Link stellt die Problematik der neuen Ost- und Deutschlandpolitik in den Jahren von 1966 bis 1975 dar. Der Beginn wird folglich nicht mit der sozialliberalen, sondern bereits mit der Großen Koalition angesetzt. Gezeigt wird dabei auch das pragmatische Agieren des Fraktionsvorsitzenden und unglücklichen Kanzlerkandidaten Rainer Barzel, der die Fraktion bei den äußerst kontroversen Aspekten zusammenzuhalten versuchte.
Breiten Raum nimmt in mehreren Beiträgen die Rolle der CSU bzw. der CSU-Landesgruppe ein. Von der CSU gingen mehrfach Bestrebungen aus, die Fraktionsgemeinschaft aufzukündigen. Im Zusammenhang damit stand die Idee, die CSU auch jenseits der bayerischen Grenzen zu etablieren. Der ernsthafteste (und letzte) Versuch in dieser Richtung war der Trennungsbeschluss vom 19. November 1976. Letztlich scheiterte das Ganze, nicht nur an der CDU-Führung, die ihrerseits in Bayern "einzumarschieren" (145) drohte, sondern auch an denjenigen innerhalb der CSU, die durch ein solches Vorgehen letztlich eine Schwächung ihrer Position befürchteten. Bis heute hält die Fraktionsgemeinschaft. Bislang hat die CDU nur gemeinsam mit der CSU - mit der sie natürlich weltanschaulich und traditionell eng verbunden ist - die Chance, die größte Fraktion im Bundestag zu bilden. Die CSU-Landesgruppe ihrerseits konnte und kann innerhalb dieser Fraktion mitunter eigene (beispielsweise föderalistische oder genuin bayerische) Positionen in einem Maße durchsetzen, welches allein aufgrund ihrer Abgeordnetenzahl wohl nicht möglich wäre. Bereits 1949 "war die CSU angesichts ihrer Mandatszahl die erfolgreichste Partei bei der Regierungsbildung." (261)
Im abschließenden Abschnitt beleuchtet Hans-Peter Schwarz, von dem im Übrigen fünf der insgesamt zwölf Beiträge des Bandes stammen, noch einmal systematisch die "Fraktion als Machtfaktor", das heißt deren vermeintlichen oder tatsächlichen Einfluss, etwa auf Ministerkarrieren.
Mit Ausnahme des Schlusskapitels bleiben die anderen Bundestagsfraktionen - von besonderem Interesse wären hier natürlich die der SPD und der FDP - leider oft ausgeblendet. Auch wenn es sich in erster Linie um ein Werk über die CDU/CSU-Fraktion handelt, so würden sich doch einige Konturen gerade im Vergleich besonders gut erkennen lassen. Zudem handelt es sich um ein recht "westdeutsches" Buch mit einem entsprechenden Fokus. Zum einen wird der Beginn (!) der friedlichen Revolution am 9. November 1989, also mit dem Mauerfall, angesetzt (177f.), zum anderen scheint es 1990 bis auf die größere Mitgliederzahl keine Veränderung in der Fraktion gegeben zu haben. Auch wäre die Frage interessant gewesen, warum die Abgeordneten aus den sogenannten neuen Bundesländern, die ja eine Vielzahl von Interessen verbindet, in der Anfangszeit nach der Wiedervereinigung vielleicht noch in wesentlich stärkerem Maße als heute, es nicht vermocht haben, einen Zusammenschluss und damit ein Schwergewicht nach dem Vorbild der CSU-Landesgruppe oder auch der nordrhein-westfälischen Landesgruppe der CDU zu bilden.
Insgesamt kann der Anspruch des Bandes, eine Geschichte der CDU/CSU-Fraktion vorzulegen, die Zeitgeschichte auch für einen größeren Leserkreis erschließen möchte, als eingelöst angesehen werden, wobei die (macht-)analytischen Passagen und hier insbesondere der zusammenführende Schlussbeitrag als besonders gelungen zu bezeichnen sind.
Erik Lommatzsch