Rezension über:

Ralf Hoffrogge: Werner Scholem. Eine politische Biographie (1895-1940), Konstanz: UVK 2014, 496 S., ISBN 978-3-86764-505-8, EUR 24,99
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Mirjam Zadoff: Der rote Hiob. Das Leben des Werner Scholem, München: Carl Hanser Verlag 2014, 383 S., ISBN 978-3-446-24622-5, EUR 25,60
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Rezension von:
Anna Ullrich
Institut für Zeitgeschichte München - Berlin
Empfohlene Zitierweise:
Anna Ullrich: Zwei Biographien zu Werner Scholem (Rezension), in: sehepunkte 15 (2015), Nr. 2 [15.02.2015], URL: https://www.sehepunkte.de
/2015/02/26022.html


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Zwei Biographien zu Werner Scholem

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Sohn aus gutbürgerlich-jüdischer Familie, Sozialist, Kriegsgegner, Frontsoldat, Redakteur der "Roten Fahne", KPD-Reichstagsabgeordneter, -Organisationsleiter und -Dissident, Jurist, langjähriger Häftling in deutschen Gefängnissen und Konzentrationslagern - alle diese Attribute vereinte Werner Scholem auf sich, als er mit 44 Jahren im Steinbruch des Konzentrationslagers Buchenwald erschossen wurde. Obwohl (oder gerade weil?) sein kurzes Leben derartig viele Aspekte deutscher Geschichte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verbindet, wurden ihm erst jetzt - dafür immerhin gleich zwei - Biographien gewidmet. Mirjam Zadoff erklärt sich das lange Schweigen der Geschichtswissenschaft über Scholem mit der Schwierigkeit, einen angemessenen Umgang mit historischen "nicht-jüdischen Juden" (303) zu finden. Ralf Hoffrogge sieht in Scholem einen der zahllosen "Besiegten der Geschichte" (7), deren individuelle Lebensläufe oftmals hinter der jeweiligen Opfergruppe zurücktreten. Darüber hinaus hinterließ Scholem kein theoretisches Werk, an dem sich künftige Generationen hätten abarbeiten können.

Ein Blick auf die Quellenlage verdeutlicht, dass es nicht allein theoretische Überlegungen sind, die uns von Werner Scholem fehlen. Ein großer Teil seiner privaten Aufzeichnungen und Korrespondenzen ging im Zuge seiner Verhaftungen - vor wie nach 1933 - verloren oder wurde vorsorglich vernichtet. Erhalten geblieben sind vor allem seine Parlamentsreden, Beiträge in der "Roten Fahne" und mehr oder minder vollständige Briefkorrespondenzen mit Familienmitgliedern - allen voran mit seinem Bruder Gerhard (Gershom), seiner Mutter Betty und seiner Frau Emmy. In beiden Biographien werden diese Aufzeichnungen neben öffentlichen Dokumenten vor allem durch Erinnerungen, Einschätzungen und Anekdoten von Familienangehörigen, Freunden und Gegnern ergänzt.

Hoffrogges Anliegen, eine "politische Biographie" zu verfassen, findet sich bereits im Untertitel des Buches, dem seine Dissertation zugrunde liegt. Zadoff will ihre Annäherung an die Person Scholems, bei der es sich um die überarbeitete Fassung ihrer Habilitationsschrift handelt, als "kulturgeschichtlichen Text" verstanden wissen. Ihrem Vorgehen liegt das Bestreben zugrunde, Scholem "im dichten sozialen Netzwerk seiner vielfältigen Beziehungen, im Besonderen seiner verwandtschaftlichen und freundschaftlichen Kontakte zu verorten." (31) Eindrucksvoll gelingt ihr dies bei der Darstellung der Korrespondenz zwischen Werner und seinem Bruder Gerhard während des Ersten Weltkrieges. Obwohl beide von August 1914 an entschiedene Kriegsgegner waren, gelang es nur Gerhard, sich dem Kriegsdienst zu entziehen. Der Austausch der Brüder war zum einen geprägt von Werners drastischen Schilderungen über die Schrecken des Krieges und seine Erfahrungen mit antisemitischen Kameraden. Zum anderen erfolgte während der ersten Kriegshälfte eine Annäherung beider in ideologischen Fragen, die sich bei dem Frontsoldaten Werner in seiner Sehnsucht nach "jeder schönen Zukunft" (67) manifestierte. Die zunehmende Entfremdung der beiden setzte 1916 mit Werners Verhaftung wegen Majestätsbeleidigung und seiner anschließenden Selbstverteidigung ein. Der brüderliche Austausch wurde nun mehr und mehr zu einem Schreiben Gerhards über seinen großen Bruder, das geprägt war von Gerhards ablehnender Haltung gegenüber Werners radikalem Engagement für die Ideale des Sozialismus. Auch für die erste Hälfte der 1920er Jahre, in der Scholems aktive Zeit als KPD-Politiker lag, trägt Zadoff zahlreich - meist negative - Einschätzungen über Werner zusammen. Als Politiker tritt er bei ihr vor allem in Erscheinung, wenn er sich in seinen Parlamentsreden oder in der "Roten Fahne" gegen antisemitische Angriffe zur Wehr setzte, mit denen er sich vor allem von völkischer Seite, aber vereinzelt auch aus den Reihen der SPD und selbst der KPD konfrontiert sah.

Im Gegensatz dazu bildet Scholems politisches Engagement - wie im Untertitel versprochen - das Kernstück von Hoffrogges Biographie. Auf der Grundlage seiner Redebeiträge im preußischen Landtag analysiert Hoffrogge drei Schwerpunkte der parlamentarischen Arbeit Scholems: Initiativen für Schulreformen, eine Verbesserung des Asylrechts - vor allem mit Blick auf die Lebensbedingungen einwandernder Ostjuden - und seine Bemühungen, die eigentlich auch von ihm abgelehnte republikanische Staatsform vor Angriffen und Putschversuchen von rechts zu schützen. Ein Vorzug der Arbeit Hoffrogges ist aber vor allem die gelungene Einbettung des Aufstiegs und Falls des Politikers Scholem in die Geschichte der KPD während der Weimarer Republik. Als energischer Befürworter der Vereinigung von USPD und KPD war er 1920 der Kommunistischen Partei Deutschlands beigetreten, stieg 1924 als Mitglied der Berliner Opposition und entschiedener Gegner der Einheitsfrontpolitik zum Organisationsleiter der Partei auf und wurde 1926 auf Veranlassung Moskaus aus der Partei ausgeschlossen. Für Hoffrogge verdeutlicht Scholems "kommunistische Biographie [...] wie kaum eine andere den Unterschied zwischen [...] der Bolschewisierung und der Stalinisierung" der KPD ab Mitte der 1920er Jahre. (312) Für die Erfahrungen Werner Scholems mag dies zutreffen, allerdings kann sie, was Hoffrogge auch vermeidet, schwerlich verallgemeinert werden.

Im Vergleich zu der Rekonstruktion seiner politischen Aktivitäten bleibt ein Porträt Scholems als Privat- und Familienmensch in beiden Biographien häufig vage und deutungsabhängig. Dies ist nicht zuletzt Scholems sarkastisch-spöttischem Stil geschuldet, mit dem er weder vor sich selbst noch vor Familienangelegenheiten Halt machte - durch den sich aber auch der Lesegenuss für die Rezensentin noch zusätzlich steigerte.

Erst mit seiner Verhaftung im Frühjahr 1933 und der anschließenden Odyssee durch Gefängnisse und Konzentrationslager manifestierte sich Scholems Familiensinn in den Briefen an seine Frau und Kinder, in denen er auf seine weitere, wenn auch nur schriftliche Teilhabe am Familienleben drängte. Obwohl vom Vorwurf des Hochverrates im März 1935 freigesprochen, blieb Scholem in "Schutzhaft", unter anderem in den Konzentrationslagern Dachau und Buchenwald. Dort wurde er im Juli 1940 von einem SS-Mann erschossen. Über die Hintergründe seiner Ermordung gehen die Einschätzungen von Zadoff und Hoffrogge noch einmal auseinander. Während Zadoff die Möglichkeit nicht ausschließt, dass Scholem als KPD-Dissident Opfer der Lagerfeme oder der Auseinandersetzungen zwischen kommunistischen und kriminellen Häftlingen wurde, verneint Hoffrogge diese Vermutungen ehemaliger Mithäftlinge entschieden. Er verweist auf die generelle Willkür des Lagersystems und auf eine "Mordwelle im Frühjahr und Sommer 1940" (445), der vor allem jüdische Häftlinge zum Opfer fielen. Trotzdem ist anzunehmen, dass sein Mörder wusste, wem er das Leben genommen hatte: Auf dem Parteitag der NSDAP 1935 war Scholem in der Rede Goebbels namentlich erwähnt worden und in der Ausstellung "Entartete Kunst", die 1937 in München eröffnet wurde, fand sich unter den Exponaten ein Gipsabdruck von Scholems Kopf.

Natürlich lebt Scholem im Gedächtnis seiner Familie fort, worauf sowohl Zadoff als auch Hoffrogge abschließend eingehen. Die Figur des Werner Scholem existiert aber auch in diversen literarischen Arbeiten fort. Im Mittelpunkt dabei stehen jedoch vor allem die Tragik seines Lebens und seine, weitgehend unbelegten, amourösen Abenteuer. Ein großes Verdienst beider Biographien ist es, der fast vergessenen, wenngleich häufig literarisch verarbeiteten Figur Scholems eine historische entgegengesetzt zu haben, die uns an "die Offenheit der Geschichte für eine andere [...] Zukunft" (Hoffrogge, 13) und "die Vielfalt der Möglichkeits- und Erfahrungsräume in einem Land in Zeiten der Revolution erinnert" (Zadoff, 29).

Anna Ullrich