Bernhard C. Schär / Béatrice Ziegler (Hgg.): Antiziganismus in der Schweiz und in Europa. Geschichte, Kontinuitäten und Reflexionen, Zürich: Chronos Verlag 2014, 176 S., ISBN 978-3-0340-1220-1, EUR 31,00
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Das Buch fasst den Inhalt einer Tagung im schweizerischen Aarau "zur Lage der Roma und anderer (ehemals) als 'Zigeuner' diskriminierter Minderheiten in Europa" zusammen. Sein Titel verändert die Akzentsetzung. Die ausführliche Einleitung und die 14 Beiträge changieren zwischen den Themen.
Ausgangspunkt sei, wie eingangs erklärt, eine Definition von Antiziganismus, die ihn - "ähnlich wie Antisemitismus" - als "eine Form des Rassismus" gegen minoritäre Gruppen verstehe, die diese "anhand von religiösen, kulturellen oder biologischen Kriterien" zu Fremden mache (10f.). Wie viele Formen des Rassismus ignoriere auch der Antiziganismus die Wirklichkeit. An die Stelle der Erfahrungswelt setze er die Hervorbringungen einer rassistischen Vorstellungswelt.
Einige der Beiträge zeigen das am konkreten Fall. Der Soziologe Jean-Pierre Tabin stellt fest, die Westschweizer Presse sei zu Beginn des 21. Jahrhunderts zur Ethnisierung des Bettelns übergegangen. Das sei zur typischen, kriminell organisierten Erwerbsweise osteuropäischer Roma erklärt worden. Der Überprüfung habe das mediale Muster nicht standgehalten. Einmal mehr habe Betteln sich ökonomisch bedingt als Folge großer Not erwiesen.
Das sollte nicht überraschen können, denn bereits aus der Alltagserfahrung weiß jeder von der Zunahme bettelnder, Flaschen sammelnder, den Müll absuchender, meist gleich als Mitteleuropäer identifizierbarer Mitmenschen. Wenn dennoch die Erklärung nicht etwa in den bekannten neoliberalen Struktureingriffen in Wirtschaft und Sozialsysteme gesucht wird, sondern in einer eigentümlichen Ethnizität, die Armut nicht zuletzt trickreich vortäusche, verweist das auf den alteingeführten stabilen antiziganistischen Referenzrahmen.
Auf die Occupy-Proteste 2012 in Frankfurt bezieht sich der Politologe Markus End mit einer Mikrostudie zum medialen Umgang mit "Roma" im Occupy-Camp. Konsequent setzt er die Gruppenbezeichnung in distanzierende Anführungszeichen. So betont er gern Übersehenes. Ob und inwieweit die als "Roma" Titulierten wirklich der Minderheit angehörten, ist, bei Licht betrachtet, nicht zu sagen. Macht medial aber nichts, denn um Roma-Realität geht es nicht. End arbeitet heraus, wie das Passwort "Roma" dazu eingesetzt wird, einen "kulturellen Vorrat an stereotypem Wissen" aufzuschließen. Es führe Zuschreibungen wie arm, ungebildet, schmutzig, nicht sesshaft "als eine Art Metapher" zusammen. Der kommunikative Sinn erwachse aus müheloser Dekodierung. Außer Acht lässt End, dass "Roma", denen mit Obdachlosen und Drogenabhängigen weitere "Randgruppen" beigefügt werden, so der Diskreditierung und Marginalisierung politischer Opposition dienen. Wie End vertreten die Migrationswissenschaftlerin Nicole Horáková, der Journalist Jan Jirát und die Kampagnenleiterin Angela Mattli von der Gesellschaft für bedrohte Völker einen empirischen Zugang, hier zu Tschechien und zum Kosovo. Fazit: die Medien ethnisieren, Roma haben keine Stimme, Staat und internationale Organisationen wehren "Politisches" (Mattli) ab.
In einem ideengeschichtlichen Rückblick vom ersten Auftreten von "Zigeunern" in Mitteleuropa bis in das erste Drittel des 19. Jahrhunderts unterscheidet die Literaturwissenschaftlerin Iulia-Karin Patrut drei Exklusionsbegründungen. Zunächst seien "Zigeuner" ("Heiden") als nichteuropäische, nichtchristliche Gruppe religiös begründet, dann seit dem 16. Jahrhundert ohne religiösen Bezug als homogener Zusammenschluss Deklassierter und Krimineller exkludiert gewesen. Eine dritte Variante sei im Übergang von der Frühen Neuzeit zur Moderne im Kontext der Erfindung und Formierung einer "deutschen Nation" aufgekommen, nämlich die essentialistische meist scharf abwertende Darstellung als orientalisches fremdes "Volk". Patrut verbleibt für die Frühe Neuzeit leider ganz auf der Ebene der Zigeunerbilder der Stubengelehrten und der Normsetzung.
Es folgt der Zeitgeschichtler Martin Holler, der Massenverbrechen an Roma 1941/42 in den besetzten sowjetischen Gebieten anhand von Primärquellen untersuchte. Er kommt zu dem Fazit, dass die Täter - anders als lange angenommen - durchweg nicht nach "fahrender Lebensart" oder sozialem Status fragten. Leitend sei die rassistisch-genozidale Intention gewesen. Verfolgung und Vernichtung seien in Übereinstimmung mit den Verbrechen an der jüdischen Minderheit systematisch und mit hoher Intensität betrieben worden. Hollers stets empirisch fundierte Aussagen rücken Relationen gerade. Die meisten europäischen Roma-Opfer waren osteuropäischen Gruppen zuzuordnen. Nicht im "Nomadisieren" oder im Musizieren, sondern - nicht anders als bei der jüdischen Minderheit - in einem kollektiven Verfolgungsnarrativ liegt bis heute eine der realen Gemeinsamkeiten der Roma Mittel- und Osteuropas.
Auf die Geschichte der "Fahrenden" in der Moderne in den mitteleuropäischen Staaten mit einem Seitenblick nach Osteuropa und nach Spanien bezieht sich vergleichend der Schweizer Historiker Thomas Meier. Leider aber sind allein die Abschnitte zur Schweiz und zu Deutschland mehr als nur kursorisch. Die schweizerische Exklusionspolitik gegen "ausländische Zigeuner" und die Domizilierung "inländischer Zigeuner" sieht er als nationale Besonderheiten. Einreiseverbote und Abschiebegebote gab es aber kaum anders auch in den deutschen Staaten. Die Einführung der Niederlassungsfreiheit sieht Meier allein als kulturelle Repression gegen Menschen, "die eine nichtseßhafte Lebensweise pflegten". Damit geht er über die Zutritts- und Niederlassungsverbote hinweg, die in langer Dauer solchen vermeintlichen "Lebensstil" erzwangen. Die Schweizer "inländischen Zigeuner" auf "einheimische" Jenische zu reduzieren, als habe es bis zur Reform des Niederlassungsrechts im 19. Jahrhundert keine "einheimischen" Roma gegeben und anschließend natürlich deren eingeborene Nachfahren, kann ebenfalls nicht überzeugen. Im gesamten Alten Reich, mit und ohne die Schweiz, gab es seit der Frühen Neuzeit zwar einerseits Grenzübertretungs- und Rezeptionsverbote gegen "Zigeuner", aber andererseits immer niedergelassene und nicht niedergelassene Roma. Normsetzung und Normdurchsetzung sind zweierlei. Weshalb sollte das in der Schweiz grundlegend anders gewesen sein?
Meier gibt einen Abriss der deutschen Zigeunerpolitik seit der Reichsgründung. Im Abschnitt zur NS-Verfolgung fehlen zwei wichtige Daten. Erstens der Himmler-Erlass vom 8.12.1938 zur Bekämpfung der "Zigeuner" "aus dem Wesen dieser Rasse". Er markiert die rassensystematische Wende in der NS-Zigeunerpolitik. Jenische und andere bis dahin als "nach Zigeunerart lebend" Eingestufte wurden nun als "deutschblütig" gewertet und zu "Nichtzigeunern". Damit fielen sie aus den Vorschriften gegen "Zigeuner" und "Zigeunermischlinge" heraus. Rasseforscher, die Jenische und andere mit einbeziehen wollten, setzten sich damit nicht durch. Deshalb sind die Evidenzbücher des "Zigeunerlagers" in Auschwitz-Birkenau ein Namensverzeichnis nur von Roma- und vor allem von Sinti-Familien. Dem so genannten Auschwitzerlass vom 16.12.1942 geht die Vereinbarung zwischen Himmler und Thierack vom 17.9.1942 zur "Auslieferung" der "Zigeuner" an die SS zur "Vernichtung durch Arbeit" voraus. Das ist die zweite Leerstelle. Und Auschwitz-Birkenau als einen Ort der "Internierung" zu beschreiben, ist eine Verharmlosung.
Stéphane Laederich, Direktor der Schweizer Roma Foundation, wendet sich bei seiner "anderen Sicht einer Tagung" gegen das "Stereotyp des 'fahrenden Zigeuners'", wie es mit Jenischen auch Angehörige hochverfestigter Armut der Mehrheitsbevölkerung einschließt. "Mit Ausnahme einer winzigen Minderheit" seien Roma nie "Fahrende" gewesen, und es auch heute nicht geworden. Er wendet sich gegen eine Kulturalisierung des "Fahrens" und zieht es vor, von Migration zu sprechen. Laederich kommt dann auf die besondere Sichtbarkeit des auffällig Abweichenden. Sie führe zu falschen Verallgemeinerungen. Die allermeisten Roma versuchten dem durch bewusste Unauffälligkeit zu entgehen.
Mit der Versammlung unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen unter das mythisierende Wort von den "Fahrenden" und mit dem Verzicht auf den Rekurs auf die Migrationsforschung ist ein zentrales Problem angesprochen. Sie zeigt sich in der Einleitung der Herausgeber, bei Thomas Meier, in dem kurzen journalistischen Beitrag des Jenischen Venanz Nobel, der empfiehlt, einmal "in die Zigeuner-Rolle" zu schlüpfen, wie es - fixiert auf Klischees - "die Fastnächtler alljährlich tun", und vor allem im Beitrag des Historikers Thomas Huonker. Er proklamiert Jenische zu einer separaten "Volksgruppe" im Sinne von ethnos und vereinigt sie unter dem Dachbegriff "Fahrende" mit Roma und irischen Travellern. Seine historische Ableitung der Gruppe aus einer umherziehenden irgendwie archaischen Bevölkerung abseits der sonstigen Schweizer ist ohne jegliche Empirie, Herkunfts- und Kontinuitätsnachweise.
Für Roma wie für Jenische gilt, dass das "Fahren" als kollektives Merkmal ein Mythos ist. "Wie ein Gerücht" (Klaus Michael Bogdal) wird er beständig in Umlauf gehalten. Dass er mitunter als exotische Selbstbild-Facette gesehen, geschätzt, dargestellt und als Ressource genutzt wird, macht ihn nicht überzeugender. Es ist nichts damit gewonnen, den alten, verbrauchten Sammelbegriff "Zigeuner" durch "Fahrende" zu ersetzen. Damit wird die Erwerbs- und Lebensweise eines Marktbeschickers, Schaustellers, Tierpflegers oder Zirkusartisten, wie sie aus allen möglichen "Volksgruppen" kommen, nur wieder der sozialen Sphäre enthoben und zu einem entwicklungsresistenten kollektiven Kulturerbe überhöht. Ebenso wenig wie "Zigeuner" klärt "Fahrende" mit den anhaftenden Konnotationen irgendetwas auf, es verstellt den Blick auf Antiziganismus. Es konserviert wirklichkeitsfremde Vorstellungen, die abgrenzen, ausgrenzen und stigmatisieren, eine antiziganistische Fabelwelt.
In seinen Widersprüchen spiegelt der Tagungsband Fortschritt und Verharren in der gegenwärtigen Diskussion.
Ulrich F. Opfermann