Wolfgang Treue: Abenteuer und Anerkennung. Reisende und Gereiste in Spätmittelalter und Früher Neuzeit (1400-1700), Paderborn: Ferdinand Schöningh 2014, 377 S., 22 Farb-, 53 s/w-Abb., ISBN 978-3-506-77785-0, EUR 44,90
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In seiner Duisburg-Essener Habilitationsschrift behandelt Wolfgang Treue die Geschichte des Reisens dreier Jahrhunderte (1400-1700), d.h. also von den Jerusalempilgern und fahrenden Rittern des Spätmittelalters bis zu den Gelehrten, Soldaten, Abenteurern und Adligen der Frühen Neuzeit. Explizit beschränkt er sich dabei auf die 'Alte Welt', also den europäisch-vorderasiatischen Kernraum des Reisens, und schließt die Entdeckungsreisen in die 'Neue Welt', die Reisen im Zusammenhang der Kolonisierung Südamerikas und anderer Weltteile, aus. Die Begrenzung auf die Zeit vor 1700 bedeutet außerdem den Verzicht auf die 'Blütezeit des Reisens', die Jahrhunderte der adligen Kavalierstour und der bürgerlichen Bildungsreise. Damit bewegt er sich zugleich in einem Raum des weitgehend individuellen und ungeformten Reisens, vor der Epoche der großen Kulturformen des Reisens und unter Zurückstellung der seit 1580 aufkommenden Reiseanweisungen (ars apodemica) und der gedruckten Reiseführer. Sein Quellenkorpus ist äußerst vielfältig bezüglich der Reisemotive, der Reiseanlässe, der Reisedauer, der Reiseumstände und Verkehrsmittel. Wichtig ist außerdem die Vorentscheidung, nicht nach Reisetypen zu unterscheiden, wie man das traditionell oft gemacht hat: also nicht 'Badereise', 'Wallfahrt / Pilgerreise', 'Kaufmannsreise', 'wissenschaftliche Forschungsreise' usw. Die Gesamtzahl der (gedruckten) Quellen, die für diese Untersuchung ausgewertet wurden, beträgt etwa 130.
Auf eine allgemeine Einleitung folgt ein "Voraussetzungen" überschriebenes Kapitel, das sich mit der Erweiterung des europäischen Horizonts in dieser Epoche beschäftigt und von einer "Omnipräsenz des Fremden" und einem gleichzeitigen "Beharrung im Eigenen" ausgeht. Die beiden folgenden Kapitel ("Systematik und Spontaneität") gelten den Reisevorbereitungen und dem Aufbruch. Der Hauptteil der Arbeit (71-253) ist "Unterwegs" überschrieben; er enthält eine an Beispielen ausgeführte Analyse des beschriebenen Korpus der spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Reiseberichte unter folgenden Kategorien: "Reisen als Schicksal und Initiation", "Interkulturelle Kommunikation - die Rolle von Sprache und Bekleidung", "Beobachtung, Aneignung und Vermittlung" sowie "Andere Länder, andere Sitten" (Schwerpunkte: Religion, Nationalcharakter, Frauen und Essen). Den Abschluss bilden drei Kapitel unter der Überschrift "Rückkehr und Resultate": "Die Heimkehr", "Reisen, um davon zu erzählen", "Reise-Memoria und ihre Funktion".
Alle diese Analysen sind ausgesprochen quellennah; jede einzelne Aussage ist belegt, und oft erfolgt die Entfaltung eines bestimmten Reiseaspekts anhand von Leitbeispielen, die reihend interpretiert werden. Es handelt sich um eine hermeneutisch vorgehende, gleichwohl auf der Interpretation einer großen Masse von Quellen beruhende, gut gegliederte und eloquent dargebotene Darstellung, die man gerne liest und die zu vielfältigen weiterführenden Überlegungen Denkanstöße liefert.
Freilich muss man sich auch über die Grenzen dieser Arbeit Rechenschaft geben. Auf eine systematische Auseinandersetzung mit den Verkehrsmitteln und Reisemodalitäten in einem Zeitalter, in dem die Postkutsche und mithin ein vorgegebenes Netz von Routen und zu besichtigenden Punkten erst allmählich vordrang, wurde verzichtet. Gewisse europäische Randbereiche wurden nicht einbezogen (ich denke beispielsweise an die Reisen nach Irland [1]). Ja, selbst gewisse Klassiker der frühzeitlichen Reiseliteratur wie Sigismund von Herberstein kommen gar nicht vor. Die Kategorie 'Nationalcharakter', deren zunehmende Bedeutung seit dem 16. Jahrhundert dem Autor nicht entgangen ist, wird nur unzureichend bearbeitet. [2] Die erfreulicherweise einbezogene religiöse Wahrnehmung geht wohl auf die Auseinandersetzung mit Juden und Muslimen im Rahmen von Pilgerreisen ins Heilige Land ein, jedoch wird nur in geringem Maße die konfessionelle Wahrnehmung berücksichtigt, die doch in einem 'Konfessionellen Zeitalter' von grundlegender Bedeutung für die Wahrnehmung und Deutung des Fremden ist.
Diese Einschränkungen mache ich nur mit Vorbehalt, weil es allemal einen Hauch von Undankbarkeit hat, wenn man von einem reich besetzten Tisch nach einem opulenten Mal mäkelnd aufsteht. Die vielfältige und quellennahe Untersuchung von Wolfgang Treue hebt unsere Kenntnis von Reisen vor der 'Blütezeit des Reisens' auf ein ganz neues Niveau; sie zeugt von großem Fleiß und eindringender Kritik. Sie bedenkt den Literaturcharakter der Reisequellen ebenso wie den wichtigen und sonst oft übersehenen Aspekt der sozialen Bedeutung des Gereistseins: Wem es gelang, einigermaßen heil von einer großen Reise in fremde Länder zurückzukehren, der hatte nicht nur etwas zu erzählen, sondern konnte mit einem neuen Anspruch auftreten.
Anmerkungen:
[1] John P. Harrington (ed.): The English Traveller in Ireland. Accounts of Ireland from the Irish through Five Centuries, Dublin 1991.
[2] Vgl. Michael Maurer: "Nationalcharakter" in der frühen Neuzeit. Ein mentalitätsgeschichtlicher Versuch, in: Reinhard Blomert / Helmut Kuzmics / Annette Treibel (Hgg.): Transformationen des Wir-Gefühls. Studien zum nationalen Habitus, Frankfurt am Main 1993, 45-81.
Michael Maurer