Andrea Löw (Bearb.): Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933-1945. Bd. 3: Deutsches Reich und Protektorat Böhmen und Mähren September 1939 - September 1941, München: Oldenbourg 2012, 796 S., ISBN 978-3-486-58524-7, EUR 59,80
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
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Schriftdenkmal für die durch das nationalsozialistische Deutschland ermordeten Juden und wissenschaftliche Dokumentation dieser Verbrechen zu sein: Das sind die Anliegen der Quellenedition VEJ. Von den insgesamt sechzehn geplanten Bänden sind mittlerweile sechs erschienen. Der hier vorliegende dritte Band umfasst für das Deutsche Reich die beiden Jahre ab Kriegsbeginn im September 1939 und greift für das Protektorat Böhmen und Mähren etwas weiter zurück, nämlich in den März 1939, als deutsche Truppen in die Tschechoslowakei einmarschierten. Neben Quellen mit regionalen Bezügen zum Reich und zum Protektorat finden sich solche, die für die Geschichte der Shoah insgesamt zentral sind, weil der Band auch Dokumente zur Genese der "territorialen Endlösung" (Dokument 89; siehe auch Dokument 125, 138 und 167) im Kontext von NS-Siedlungsplänen (Dokument 126) sowie zum Madagaskarplan (Dokument 92, 94, 99 und 101) versammelt. Deutlich wird ferner, dass etwa die Ermordung jüdischer psychisch Kranker in Chełm (Dokument 173) oder die Erschießung von 12 000 Juden in Lemberg (Dokument 195) in Form von Gerüchten bekannt war.
Doch beschränken sich die zusammengestellten Quellen nicht auf Verwaltungsschriftgut. Vielmehr versammelt auch dieser Band in der bereits von der VEJ bekannten Art und Weise eine Vielzahl von Dokumenten unterschiedlicher Herkunft, sodass Zeitzeugenbericht neben Verwaltungsanordnung steht und ein privater Brief auf einen Zeitungsartikel folgen kann. Was auf den ersten Blick willkürlich erscheinen mag, fügt sich in der chronologischen Anordnung in ein eigenes Narrativ. Auch zeigt gerade dieses Verfahren, wie unübersichtlich die Situation für die Betroffenen war, die sich auf die häufig in schneller Folge ergehenden Maßnahmen einzustellen versuchten und deren immer verzweifelter werdenden Bemühungen um Ausreise oft viel mehr Zeit beanspruchte als ihnen ihre Verfolger zubilligten.
Mit Blick auf das Protektorat wird in der Dokumentation deutlich, wie stark das deutsche Interesse an einem "geordneten" Vorgehen war: Geschäfte etwa sollten zwar als "jüdische Geschäfte" gekennzeichnet, aber nicht mit Aufschriften wie "Juden" oder "Saujuden" versehen werden. Ein Anliegen war den Behörden auch die Vermeidung sogenannter "wilder Arisierungen", um den Besitz der enteigneten Menschen dem Deutschen Reich zuführen zu können. Zu den weiteren Stufen der Verfolgung gehörten die Erhöhung des Drucks zur Auswanderung und im Oktober 1939 erste Deportationen aus Mährisch-Ostrau (Ostrava) in das Generalgouvernement nach Nisko am San (Dokument 264, 265 und 271). Nach dem Abbruch dieser Deportationsexperimente wurden die verbleibenden jüdischen Menschen im Protektorat (wie im Deutschen Reich) auf vielfältige Art und Weise schikaniert und zur Zwangsarbeit gezwungen, sodass in den westlichen Gebieten der ehemaligen Tschechoslowakei am 1. April 1941 bereits 70 Prozent der Männer zwischen 16 und 60 Jahren Zwangsarbeit leisteten (42). Ein halbes Jahr später wurde der gelbe Stern als Kennzeichnung der jüdischen Bevölkerung eingeführt, im Herbst die Deportationen auch aus dem Protektorat vorbereitet. Tschechische Institutionen, auch das wird deutlich, wurden als Komplizen in die deutschen Verfolgungsmaßnahmen einbezogen, zum Teil gar angewiesen, die antijüdische Politik nicht eigenmächtig zu verschärfen (Dokument 257).
Begleitet wurden die Verfolgungsmaßnahmen von Anfang an von Einschüchterungen, Pöbeleien und Erniedrigungen, bei denen nicht zuletzt die Anhänger Konrad Henleins eine ungute Rolle spielten. Doch auch die tschechische Öffentlichkeit rückte von den jüdischen Mitbürgern und Mitbürgerinnen ab: Langjährige Bekannte grüßten nicht mehr (Dokument 242) und "die Leute arisierten sich selbst" (Dokument 241, 583), indem Inhaber ihre Geschäfte auf Tschechisch als "arische Betriebe" auswiesen. Es gab anonyme Drohbriefe (Dokument 288) und Denunziation. Von der daraus resultierenden Verzweiflung auf jüdischer Seite künden die vielen Selbstmorde (Dokumente 235, 241 und 275). Andere Quellen wiederum, nicht selten Ego-Dokumente, aber auch ein SD-Bericht, schildern dagegen judenfreundliches Verhalten (Dokumente 284, 308 und 309), das nicht selten demonstrativ antideutsch gewesen sei. Hier zu generalisierenden Aussagen zu kommen, ist außerordentlich schwierig und bedarf wohl einer stärkeren Kontextualisierung, waren doch jüdische Menschen bis zum Einsetzen der Verfolgungsmaßnahmen Angehörige der lokalen Gesellschaften und blieben dies bis zu ihrer Deportation, wenn auch unter deutlich veränderten Bedingungen.
In der Summe ist viel Positives über diesen Band zu sagen: eine informative Einleitung der Bandbearbeiterin Andrea Löw, die Zusammenstellung von berührenden Zeugnissen der Verfolgten und von wichtigen Quellen für die Holocaust-Forschung insgesamt, ihre sorgfältige editorische Aufbereitung und die unglaublich aufwändigen Recherchen zu allen erwähnten Personen, die dem Anliegen des Schriftdenkmals entsprechen. Betrüblich ist bei all dem aber die Entscheidung zur Verwendung deutscher Ortsnamen in allen erklärenden Textteilen. Dass sie "seit alters gebräuchlich" seien, vermag als Erklärung genauso wenig zu überzeugen wie die Begründung, dass die Frage tschechischer Ortsnamen erst "mit dem Aufkommen des tschechischen Nationalismus im 19. Jahrhundert [...] bedeutsam wurde" (11). Eine solche Argumentation legt allzu sehr die Sichtweise nahe, dass man sich auf eigentlich deutschem Gebiet befinde, das erst im Zuge von Nationalbewegung und Nationalismus sprachlich tschechisiert worden sei. Dies haben die Herausgeber gewiss nicht intendiert, und so wäre es hilfreich gewesen, in den Köpfen der Quellen die deutschen und tschechischen Formen der Ortsnamen zu verwenden, wie dies in der historischen Bohemistik, sei sie deutsch- oder englischsprachig, schon seit Langem praktiziert wird. Nicht zuletzt würde dies auch einem mit den böhmischen Ländern weniger vertrauten Lesepublikum einen Zugang über aktuelles Kartenmaterial erleichtern.
Tatjana Tönsmeyer