Friedrich Beiderbeck / Irene Dingel / Wenchao Li (Hgg.): Umwelt und Weltgestaltung. Leibniz' politisches Denken in seiner Zeit (= Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz. Abt. für Abendländische Religionsgeschichte; Beiheft 105), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2015, 688 S., ISBN 978-3-525-10138-4, EUR 140,00
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Mit seinen 25 Beiträgen auf insgesamt rund 670 Seiten, zu denen Inhalts- und Autorenverzeichnis, Vorwort und Personenregister noch hinzutreten, gehört der hier anzuzeigende Band sicher zu den umfangreicheren und - das sei vorweggenommen - gehaltvolleren seiner Art. Er dokumentiert eine entsprechend stattliche Tagung von 2012 und wird in dem einführenden Aufsatz von Friedrich Beiderbeck (11-40) im Rahmen der Leibniz-Edition sowie der internationalen Leibniz-Forschung thematisch profiliert und kontextualisiert (11-24). Im Anschluss an Ansätze der historisch-semantischen Forschung (11f., 24f.) bietet der Band "eine Reihe von Beiträgen, die anhand einiger ausgewählter Grundbegriffe die Position von Leibniz zu politisch-gesellschaftlich grundlegenden Themen untersuchen" (25). Die Grundbegriffe sind wiederum 6 Sektionen zugeordnet, mittels derer der Band insgesamt gegliedert wird: "Reich und Territorium", "Staat und Außenpolitik", "Fremdwahrnehmungen", "Gesellschaft - Wissenschaft - Kultur", "Geschichte - Politik - Dynastie" sowie "Recht - Kirche - Mission". Im Folgenden werden die genannten Sektionen am Beispiel ausgewählter Studien vorgestellt; die instruktive Einleitung Beiderbecks bietet gleich zwei unterschiedlich gelagerte inhaltliche Überblicke über alle versammelten Beiträge (25-31; 32-40).
Die erste Sektion eröffnet Heinz Duchhardt mit seinen Ausführungen zu Leibniz' Verhältnis zum Reich (43-55). Die bekannte Kaiser- und Reichsnähe des Gelehrten in ihrer Entwicklung nachzeichnend, werden vor allem die Mainzer Jahre als prägende Phase im Leben Leibniz' in den Blick genommen (45-50). Sie haben ihn "auch gelehrt, das Reich in seinem europäischen Kontext zu denken" (50). In politisch-struktureller Abgrenzung vom Frankreich des Sonnenkönigs machte Leibniz die Stabilität des Reiches gleichsam zur Grundbedingung für die friedliche Ordnung Europas und deren Erhaltung (50-55). Die genannte politische Grundhaltung Leibniz' exemplarisch konkretisierend, widmet sich die Studie von Wolfgang Burgdorf (57-79) dann den Beiträgen und Vorschlägen des lutherischen Denkers schwerpunktmäßig zur Reform des Reichs auf konfessions- (59-63) und sicherheitspolitischer (68-75) sowie verfassungs- (65-67) und gesandtschaftsrechtlicher (75-78) Ebene. Obgleich seine Vorstöße weitgehend unrealisiert blieben, belegen sie Leibniz' konstruktiven Umgang mit dem vielschichtigen System, auf dem die Reichstabilität ruhte (78f.).
Im Rahmen der zweiten Sektion untersucht dann Heinhard Steiger Leibniz' Konzeption eines ius suprematus (135-206). Ausgehend von den Wünschen seines Hannoveraner Dienstherren nach einer den politischen Ansprüchen seines Hauses angemessenen diplomatischen Repräsentanz (137) gelangte Leibniz in Reflexion des ius legationis in rechtstheoretisch origineller Weise zum Begriff des ius suprematus, mittels dessen er den Zielen des aufstrebenden Hauses Hannover auf gesamteuropäischem Parkett Rechnung tragen wollte (besonders 144-158), den er gegen potentielle Einsprüche abschirmte (158-165) und schließlich explizit völkerrechtlich fundierte (184-195). Demgegenüber fokussiert Guido Braun auf die enge Verwobenheit der Kategorien "Frieden" und "Gleichgewicht" vorwiegend im konfessions- und ordnungspolitischen Denken Leibniz' (207-230). In Reaktion auf die Expansion des ludovizianischen Frankreich entwickelte er "ein diplomatisches Kräftemodell", dessen Unwägbarkeiten er gezielt aufzufangen versuchte (211-220, Zitat 214). Der Zusammenhang von Gleichgewicht und Frieden wird ihm dabei zur ordnungspolitischen Leitlinie seiner Einschätzung nicht nur der reichsinternen Situation, sondern auch der Tragfähigkeit des europäischen Mächtesystems. Dass dabei das Frankreich Ludwigs XIV. im Denken Leibniz' nicht nur die Funktion der Negativfolie zur Bewertung des Reiches und seiner politisch-rechtlichen Ordnung übernahm, verdeutlicht prägnant der Beitrag von Martin Wrede aus der dritten Sektion (277-292). Vielmehr oszillierte Leibniz' Frankreichbild zwischen "Feindbild und Vorbild" (277), wobei er auf dem Gebiet der Reichspublizistik in ganz eigener Weise (282-290) den Stimmungstrends seiner Zeit folgte (281f., 291f.). Eines genauso differenzierten Blicks bedarf die Chinawahrnehmung Leibniz', wie Wenchao Li unterstreicht; er beleuchtet die Positionierung des christlichen Europäers zu China unter dem Leitgesichtspunkt seiner Vorstellung vom kulturellen Austausch (293-306). Dabei zeichnet er zunächst den ideengeschichtlichen Entwicklungsgang hin zu einer commercia scientiarum nach (293-298), die ihrerseits wieder ins Verhältnis zum Gedanken der propagatio fidei gesetzt wird (298-302), um die volle Tragweite der von Leibniz verfochtenen "propagatio fidei per scientias" (306) ermessen zu können.
In Sektion 4 stellt Martin Gierl den auf kulturellen Austausch und dessen Gestaltung bedachten Leibniz als Wissenschafts- und Modernitätsorganisator vor, der sich im Zuge seines Fortschrittsdenkens ganz "der Idee von der Organisation der Organisation" hingab (415-432' Zitat 416). Im Gespräch mit den entsprechenden Vorstößen Sprats (417-419) und der schneidenden Kritik Swifts (419-423) profiliert Gierl Leibniz' Akademiepläne, deren Funktionsbestimmung sowie ihre faktische Funktion im Kontext der Entstehung des modernen Staats (423-432). Leibniz' kultur- und wissenschaftsorganisatorische Überlegungen ruhten dabei auf einem eigenständigen Kulturbegriff, dem sich die Studie von Friedrich Beiderbeck widmet (463-486). Insgesamt entwickelte Leibniz dabei ein auf Bildung und Öffentlichkeit, auf "Konstituierung einer öffentlichen Kultur als Kommunikationsraum" (477) bezogenes Kulturverständnis (476-485). Dieser Austauschgedanke war auch für sein Italienbild wesentlich: In der fünften Sektion befasst sich Matthias Schnettger mit dem Italienaufenthalt, seiner Motivation und seinem vielschichtigen Ertrag (527-550). Denn neben den Recherchen zu seiner historiographischen Auftragsarbeit widmete sich Leibniz dem intensiven Austausch mit italienischen Gelehrten, der seine Wahrnehmung Italiens und der Italiener wesentlich prägte (528-533). Hinzu trat freilich der Kontakt mit dem Haus der Este, der sich aus Leibniz' Arbeiten zur Welfengeschichte ergab und der ihm immer wieder Gelegenheit gab, sich in die politisch-dynastischen Auseinandersetzungen und die Tagespolitik nicht nur innerhalb Italiens einzuschalten (534-549).
Der sechsten Sektion ist der wieder schwerpunktmäßig begriffsgeschichtliche Beitrag von Stephan Waldhoff zugeordnet, der Leibniz' Deutung und Nutzung der Begriffe Kirche, Konfession und Sekte nachspürt (613-640). Luzide zeichnet Waldhoff nach, wie Leibniz die konfessionelle Spaltung terminologisch erfasste und bewertete, wie der Gelehrte folglich mit dem Phänomen konfessioneller Pluralität umging (615-620). Dass und wie Leibniz zur Apologie des Luthertums "eine veritable 'Wortpolitik'" (628) trieb, lässt sich dabei an seinem Gebrauch der Bezeichnung "Evangelische" festmachen, den der Lutheraner exklusiv auf seine eigene Konfession anwendet, während er Lutheraner und Reformierte terminologisch als "Protestanten" fasst (628-638). Markus Friedrich unternimmt es dann, Leibniz' Positionierung im Rahmen der protestantischen Debatte über die Heidenmission darzustellen (641-677) und sein Verhältnis zu den Jesuiten sowie seine kritische Haltung zu deren Missionsanstrengungen in China herauszuarbeiten (644-656). In diesen Kontexten wird der lutherische Denker unter Rekurs auf seine propagatio fidei per scientias als eigenständiger missionstheologischer und -organisatorischer Denker profiliert (665-672).
Es sind somit vor allem die inhaltlich-thematischen Verknüpfungsmöglichkeiten zwischen den je für sich gehaltvollen Studien, die den vorgestellten Band insgesamt zu einem echten Gewinn werden lassen, und zwar mitnichten nur für die Leibniz-Forschung.
Christian Volkmar Witt