Michael Fischer / Norbert Haag / Gabriele Haug-Moritz (Hgg.): Musik in neuzeitlichen Konfessionskulturen. (16. bis 19. Jahrhundert), Ostfildern: Thorbecke 2014, 295 S., 20 Abb., ISBN 978-3-7995-0510-9, EUR 39,00
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Ausgehend von dem Gedanken eines konfessionellen Zeitalters, das mit der gebotenen Unschärfe die Spanne von der lutherischen Reformation bis katholischen Reform, der sogenannten Gegenreformation in der Mitte des 17. Jahrhunderts umfasst, hat der Göttinger Kirchenhistoriker Thomas Kaufmann den Begriff der "Konfessionskulturen" geprägt. Diese sind zunächst ein westeuropäisches Phänomen, das eng mit Raumkonstruktionen verknüpft ist. Formulierungen wie "die Kernlande der lutherischen Reformation", "das katholische Süddeutschland" oder "die reformierte Schweiz" machen das hinlänglich deutlich und weisen gleichzeitig sehr deutlich auf die diskursive Konstruktionsleistung hinter diesen Formulierungen hin: Denn stets verbinden sich mit den konfessionellen Bezeichnern über die genannten Räume weitere Vorstellungen einer besonderen kulturellen Prägung.
Dies lässt sich am Beispiel der Musik, wie sie in diesem Band im Zentrum steht unschwer ablesen. Es handelt sich um die Beiträge einer Tagung, die im Jahr 2011 im Landeskirchlichen Archiv Stuttgart stattgefunden und die, wie die publizierten Beiträge ausweisen, in historischer wie konfessioneller Hinsicht gleichermaßen breite Perspektiven eröffnet hat.
Dabei deutet der Untertitel des Bandes "Räume - Medien - Funktionen" bereits einige dieser Perspektiven an, die sich freilich nicht als gegeneinander abgegrenzte Kategorien verstehen lassen sollen. Sehr deutlich wird das etwa in Beat Kümins den Band eröffnenden Beitrag, der sich gegenständlich mit "Musik in englischen Kirchengemeinden der Reformationszeit" beschäftigt, diesen Gegenstand aber sowohl raumtheoretisch wie auch performativ kontextualisiert, um daran den Wandel der Funktionen der Musik innerhalb englischer Pfarreien der Reformationszeit zu zeigen. Einen dezidiert medientheoretischen Ansatz wiederum verfolgt Stephanie Moisi in ihrem Beitrag zur Medialität des geistlichen Liedes im Zeitalter der Reformation. Indem sie sich dabei auf die Psalmlieder konzentriert, erlaubt das eine sehr glückliche Parallelisierung in Beat Föllmis Ausführungen zum Genfer Psalter als Medium, berücksichtigend, dass ausgehend von Jean Calvins Gebot "sola scriptura" der Psalmengesang als einzige biblisch bezeugte Art des Singens für die reformierte Konfessionskultur von zentraler Bedeutung ist.
Die lutherische Reformation hat zur Musik dagegen eine sehr umfassende Beziehung entwickelt, und es ist sicherlich nicht vermessen, von ihr als einer "singenden Reformation" (Ada Kadelbach) zu sprechen. Von dieser umfassenden Beziehung kann ein solcher Band verständlicherweise nur sehr wenige Einzelaspekte behandeln. Stephen Rose nimmt dazu zwei Drucksammlungen häuslicher Andachtsmusik in den Blick, wobei allerdings seine Überlegungen zur sozialen Verortung von "Hausvater" und "Hauskirche" innerhalb des lutherischen Protestantismus nicht sonderlich differenziert scheinen. Katharina Talkner schaut auf die Rolle des geistlichen Liedes auf dem Weg vom Lehrmädchen zur lutherischen Klosterjungfer in den Lüneburger Klöstern der Frühen Neuzeit. [1]
Konstanze Grutschnig-Kiesers Aufsatz zu den Liedern im Kontext der Herrnhuter Brüdergemeine fasst sodann eher bereits Bekanntes zusammen, als dass er Neues eröffnete. Wie weit die kulturelle Vereinnahmung eines Lutherliedes reichen kann, macht schließlich Michael Fischer deutlich, der in einem leider nur recht knappen Beitrag die Funktion des Chorals "Ein feste Burg ist unser Gott" als Symbol des deutschen Nationalismus im Ersten Weltkrieg darstellt.
Auffällig an diesem Sammelband ist, welch große Anziehungskraft die lutherische Musikkultur hat: Beiträge, die sich in ähnlicher Weise mit der Musik in der katholischen Konfessionskultur beschäftigen, fehlen mit einer Ausnahme: Silvia Maria Erber und Sandra Hupfauf schauen in einem perspektivenreichen Beitrag auf die Religion als bestimmendes Moment in der politischen Musik Tirols um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert. In den übrigen Beiträgen wird dagegen eine interkonfessionelle Perspektive gesucht. Sehr anregend sind in diesem Zusammenhang Gabriele Haug-Moritz' Ausführungen zur akustischen Dimension der französischen Religionskriege am Beispiel der Pariser Prozessionen der Jahre 1562 und 1563, in denen das Potenzial der noch jungen sound studies für die (musik-)historische Forschung gut erkennbar wird. Ein ähnliches Potenzial könnte auch die Untersuchung der Hymnenbücher für die Konfessionalisierung in Heidelberg aufzeigen, wie sie Matthew Laube vornimmt, dabei aber analytisch nicht ganz so tief vordringt.
Im positiven Sinne randständig in diesem Sammelband ist Janina Klassens Beitrag zur Übersetzung der Musurgia universalis des Jesuiten Athanasius Kircher durch den protestantischen Pfarrer Andreas Hirsch, randständig, weil Musik hier nicht als Gegenstand, sondern als Denkform der Wissensvermittlung begriffen wird.
Mit dem 19. Jahrhundert ist historisch dann eine Zeit erreicht, in der die komponierte Figuralmusik der jeweiligen Konfessionen die größte Aufmerksamkeit auf sich zieht. Wolfgang Fuhrmann steuert dazu Überlegungen zur Frage der Interkonfessionalität oder Überkonfessionalität in der Kirchenmusik um 1800 bei. [2] Konkretisiert werden seine Ausführungen von Stefanie Steiner-Grage am Beispiel von Ludwig van Beethovens Missa C-Dur und ihren zwei späteren deutschsprachigen Textierungen durch protestantische Dichter. Ein wenig apologetisch nähert sich Konrad Klek dem Komponisten Heinrich von Herzogenberg als konfessionellem Grenzgänger; etwas bemüht wirkt hier auch der Versuch einer Dekonstruktion "alter konfessionalistischer Schablonen in der Musikhistoriografie des ausgehenden 19. Jahrhunderts" (213) durch Anwendung musikbezogener Kategorien wie die einer symphonischen Konzeption in Herzogenbergs Requiem op. 72, denen aber letztlich eine ebensolche Schablonenhaftigkeit eignet, wenngleich keine konfessionalistische.
Dass aber auch die Deutung der großen konfessionell bestimmten Personen oder Werke ihrer Funktion nach konfessionalistisch sein kann, machen Linda Maria Koldau und Meinrad Walter deutlich. Koldau widmet sich mit analytischer Schärfe den konfessionellen Antipoden Bonifatius und Luther und ihrer jeweiligen Darstellung als nationalreligiöse Identifikationsfiguren in verschiedenen kaum bekannten Oratorien des 19. Jahrhunderts; Walter stellt verschiedene Deutungen von Johann Sebastian Bachs Passionen und der h-Moll-Messe einander gegenüber, wobei ihn diese Deutungen allerdings weniger als Analysegegenstand interessieren denn als Sprungbrett zu Gedanken über konfessionelle Mentalitäten in der gegenwärtigen kirchenmusikalischen Praxis.
Sammelbänden und Tagungsberichten Unvollständigkeit nachzuweisen, ist eine einfache Übung, auch ist ihnen häufig eine mehr oder weniger große Heterogenität zu eigen. Der vorliegende Band stellt in dieser Hinsicht keine Ausnahme dar. Der große abgedeckte Zeitraum bei gleichzeitig starker Konzentration auf den deutschsprachigen Raum gereicht dem Band nicht zum Vorteil, und als hinderlich erweist sich auch der unklare Umgang mit den im Untertitel genannten Konzepten "Räume - Medien - Funktionen". Jedes dieser Konzepte ist für sich tauglich, als analytische Kategorie zu fungieren, erst recht, wenn sie nicht starr, sondern als gegenseitig unterstützend verstanden werden. Das ist jedoch, vielleicht auch aufgrund eines fehlenden Rahmens seitens der Herausgeber, in den Beiträgen nur sehr unterschiedlich gut gelungen, und so fehlt es diesem Band als Ganzem betrachtet nicht zuletzt an einem übergeordneten Erkenntnisinteresse.
Anmerkungen:
[1] Es handelt sich dabei um die Zusammenfassung einiger Ergebnisse ihrer Dissertation, in der ich als Zweitgutachter fungiert habe und daher an dieser Stelle keine Würdigung vornehmen kann.
[2] Hier muss ich es aufgrund persönlicher Befangenheit gegenüber dem Autor bei der einfachen Erwähnung belassen.
Andreas Waczkat