Werner Breunig / Jürgen Wetzel (Hgg.): Fünf Monate in Berlin. Briefe von Edgar N. Johnson aus dem Jahre 1946 (= Schriftenreihe des Landesarchivs Berlin; Bd. 18), Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2014, VI + 458 S., 86 Abb., ISBN 978-3-486-73566-6, EUR 39,95
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"Kein Dogma wird die Welt erretten. [...] Ruhige, bescheidene, tüchtige Menschen, die all ihre Fähigkeiten der Verbesserung ihrer Welt widmen [...], sind die Persönlichkeiten, die etwas zuwege bringen." So formulierte Edgar N. Johnson in seinem Vorwort einer deutschsprachigen Autobiographie Benjamin Franklins dessen zentralen Lehrsatz, der dem deutschen Volk im Jahre 1946 helfen sollte. Der Historiker der Universität Nebraska, der im selben Jahr für fünf Monate als ziviler Experte für die amerikanische Militärregierung in Berlin tätig war, stellte die Biographie dieses Gründervaters der Vereinigten Staaten als "Anblick der lebendigen Demokratie" vor sein Publikum. Franklins praktische Ethik und sein Kampf gegen die Tyrannei stellten ebenso wie seine Leistungen beim Aufbau Philadelphias und Amerikas Inspirationen für ein Volk dar, das in den Trümmern der Gegenwart zwischen den Versuchungen der Vergangenheit und den ungewissen Verheißungen einer besseren Zukunft zu wählen hatte. Johnson weitete damit eine politische Philosophie auf das besiegte Deutschland aus, die für ihn die amerikanische Identität definierte: Franklin war "Prüfstein dessen [...], was das Land, damals ebenso wie heute, wirklich vorstellt."
Diese Überzeugungen Johnsons motivierten seine politische Tätigkeit als Mitarbeiter von General Lucius D. Clay und Berater des amerikanischen Stadtkommandanten von Berlin. Die vielfältigen Betrachtungen, die er in seiner Zeit in Deutschland anstellte, legte er vor allem in Briefen an seine Frau nieder, die mit seinen zwei Söhnen in Nebraska verblieben war. Werner Breunig und Jürgen Wetzel haben nun in einer äußerst verdienstvollen Quellenedition diese Dokumente, die 2005 aus dem Privatnachlass Johnsons in den Archivbestand der University of Chicago Library übergegangen sind, für die deutsche zeithistorische Forschung herausgegeben. Die Edition umfasst die transkribierten Briefe Johnsons sowie den Abdruck seines nach Ende der Tätigkeit in Deutschland entstandenen Berichts "Five months in Berlin". Flankiert wird der Dokumententeil einerseits von den einleitenden Aufsätzen der Herausgeber, die konzise die Biographie Johnsons und seine Tätigkeit in Berlin darstellen, sowie andererseits von einem Bildanhang und einem detaillierten Personenregister. Besonders hervorzuheben ist die Qualität des mit großer Sorgfalt und Mühe recherchierten, umfangreichen wissenschaftlichen Anmerkungsapparats.
Die Briefe sind zwar privater Natur, fungieren jedoch gleichzeitig als Johnsons politisches Tagebuch, wie dieser seiner Ehefrau selbst erklärte: "Since I don't write a journal letters to you fulfill somewhat that function." (193) Sie stellen daher einen Quellentypus dar, der die Felder der politischen Geschichte Amerikas, Berlins und Deutschlands durch die subjektiv-biographische Perspektive eines liberalen Historikers aus dem Mittleren Westen der USA hervortreten lässt. Ihr Studium liefert somit nicht nur vielfältige Einblicke ins Innere der amerikanischen Militärregierung in Deutschland und in den Alltag im besetzten Berlin, sondern gibt zudem den Blick frei auf die politische Kultur der Vereinigten Staaten in der Nachkriegszeit.
Johnsons "simple American creed" (271) stand in der bereits angeklungenen Tradition der Gründungsgeschichte der USA und war geprägt durch die liberalen Gedanken der freiheitlichen Demokratie und der bürgerlichen Grundrechte sowie durch die republikanische Betonung von Verantwortung und Tugend des Einzelnen. Wie diese Überzeugungen über fünf Monate hinweg mit den Realitäten der umstrittenen Viermächtestadt konfrontiert wurden und in eine tiefgreifende Abneigung sowohl gegenüber den Methoden der Kommunisten als auch gegenüber amerikanischer Neutralität im Konflikt um Europa und Deutschland umschlugen, gehört wohl zu den bedeutsamsten Beobachtungen, die die Quellenedition gestattet.
Johnson, anfangs fasziniert von der kulturellen und sprachlichen Herausforderung der Viermächteverhandlungen, wurde durch die kompromisslose Machtpolitik deutscher wie sowjetischer Kommunisten in eine prononcierte Abwehrhaltung getrieben. Die willkürliche Verhaftung oppositioneller Sozialdemokraten im Ostteil der Stadt, die von Johnson energisch bekämpfte Zwangsvereinigung von KPD und SPD zur SED, der sowjetische Widerstand gegen freie Wahlen sowie der "enforced enthusiasm" (191) kommunistischer Großveranstaltungen erinnerten ihn zunehmend an die kaum ein Jahr zuvor gestürzte nationalsozialistische Schreckensherrschaft. Diese Erfahrungen schärften seine liberalen Überzeugungen: "The issue between Soviet-Communist 'democracy' and American 'democracy' is becoming concrete here, and I know which side I am on." (161)
Der Quellenbestand erlaubt daher faszinierende Einblicke in die Zeit der Genese des Kalten Krieges und bereichert, auch ohne gänzlich neue Erkenntnisse zur Ereignisgeschichte zu liefern, jüngere Forschungsansätze auf diesem Feld. So unterstreichen Johnsons Aufzeichnungen die Bedeutung Berlins nicht nur als Symbol, sondern auch als Katalysator des Ost-West-Konflikts. Sie erhellen hierbei Fragen nach der Verschränkung von Besatzungskonflikten und entstehendem Kalten Krieg in Deutschland ebenso wie solche nach der Relevanz politischer Wertsysteme in diesem Prozess. Daneben liefern die Quellen aber vor allem unschätzbare Momentaufnahmen des Alltags in der zerstörten Stadt, der für Johnson stets kontroversen Besatzungskultur der Amerikaner und des widersprüchlichen Selbstverständnisses der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg.
Die einleitenden Aufsätze stellen gut recherchierte Skizzen dar, die den Leser mit der Biographie Johnsons und seiner politischen Rolle in Berlin vertraut machen und vorab einen Überblick über Kontext und Inhalt der Dokumente geben. Während sie so den Einstieg in das Quellenstudium erleichtern, wird ihre Lektüre dadurch etwas erschwert, dass sie sich inhaltlich teils überschneiden, vor allem bezüglich der Details der institutionellen Einbindung und Tätigkeit Johnsons in Deutschland. Wünschenswert wäre hier abseits der deskriptiven Ebene auch ein stärkerer Fokus auf die Einbettung der Quellen in den weiteren, gerade auch amerikanischen historischen Kontext und in aktuelle Forschungsfragen gewesen.
Es ist jedoch unbestreitbar, dass die Herausgeber mit dieser Quellenedition einen äußerst verdienstvollen Beitrag zur zeithistorischen Forschung leisten. Die bisher unbeachteten Aufzeichnungen Johnsons sind sowohl für den Geschichtswissenschaftler als auch für den historisch interessierten Leser von großem Wert und bereichern potentiell mehrere zeithistorische Forschungsfelder. Die wissenschaftliche Kommentierung der Dokumente entspricht den besten Standards. Der Band sollte somit zum Bestand jeder gut sortierten wissenschaftlichen Bibliothek gehören.
Björn Grötzner