Gustav Seibt: Mit einer Art von Wut. Goethe in der Revolution, München: C.H.Beck 2014, 248 S., 44 Abb., ISBN 978-3-406-67055-8, EUR 19,95
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Mit Goethe in der Revolution setzt Gustav Seibt sein Programm fort, den Klassiker als literarischen Zeithistoriker der großen Epochenumbrüche des revolutionären Zeitalters zu aktualisieren. Nach seiner fulminanten und vielbeachteten Studie Goethe und Napoleon, in der vor allem die politischen und ökonomischen Debatten und deren Reflexion in Goethes Werken nach 1806 im Fokus standen, kontextualisiert Seibt nun Goethes Schriften zur Französischen Revolution im juristischen und rechtshistorischen Diskurs. En passant wirft er dabei Grundfragen zum Quellenstatus von literarischen Werken, Augenzeugenberichten, Mémoiren oder Briefen auf.
Seibts Analyse ist selbst in der narrativen Form einer historischen Spurensuche erzählt. Sorgfältig und explizit werden der jeweilige Zeugnis- und Quellenwert der historischen Dokumente und - im Fall eines Autors wie Goethe unerlässlich - unterschiedliche Lesarten und Wertungen in der Rezeptionsgeschichte abgewogen. Wie ein Geschworenengericht lässt Seibt so die Leserinnen und Leser teilhaben an Möglichkeiten der historischen Urteilsfindung.
Ausgangspunkt sind zwei sich beinahe wörtlich widersprechende Aussagen über den 'weißen Terror' an den Mainzer Republikanern im Anschluss an die Eroberung der Stadt durch die preußischen Truppen im Sommer 1793. Der Augenzeuge ist Goethe, der im Gefolge des Herzogs von Weimar am ersten Koalitionskrieg teilgenommen hat. Nach dem Abzug der französischen Armee kam es zur von den preußischen Truppen mindestens geduldeten, eher noch angespornten und selbst vollzogenen Lynchjustiz und schweren Übergriffen an den in der Stadt verbliebenen Deutschen, die während der französischen Besatzung die Mainzer Republik ausgerufen und den ersten demokratischen Verfassungsstaat auf deutschem Boden gegründet hatten. Während Goethe in einem Brief vom 27. Juli 1793 an Friedrich Heinrich Jacobi der "Modus, die Sache gleichsam dem Zufall zu überlassen" "gut deucht", weil er "unruhigem Volck zur Lehre" diene (122), stellen sich die Ereignisse in seiner späteren Darstellung 1820 ganz anders dar - und zwar nicht nur in Bezug auf die Bewertung, sondern auch auf die Fakten. Nach dem für seine Autobiografie Dichtung und Wahrheit verfassten Bericht sei er selbst es gewesen, der der "Pöbeljustiz" Einhalt geboten und die Mainzer Republikaner durch sein beherztes Eingreifen und die Autorität seiner Person gerettet habe (24).
Von dieser Beobachtung ausgehend sichtet Seibt das umfangreiche Material des mit den Ereignissen verbundenen juristischen Diskurses, der durch das Aufeinanderprallen zweier nicht kompatibler Rechtsvorstellungen charakterisiert ist: dem in den deutschen Fürstentümern geltenden altständischen Recht und dem damit verbundenen Treueeid auf den Kurfürsten einerseits und dem neuen konstitutionellen Rechtsbegriff und dem in der Mainzer Republik geforderten Verfassungseid andererseits. In diesem Spannungsfeld entstehen auch neue juristische Kategorien wie die des "politischen Kollaborateurs". In seiner Darstellung versucht Seibt, beiden Sichtweisen historisch gerecht zu werden: ausgiebig kommen antirevolutionäre und frühkonservative Stellungnahmen in der Nachfolge von Edmund Burke und Friedrich Gentz zu Wort, in denen die Revolution als Gründungsgeschehen des modernen Totalitarismus gegenüber einem vermeintlich geordneten und ausbalancierten alteuropäischen Rechtspluralismus gedeutet wird. Zugleich zeigt Seibt, dass die Vertreter der antirepublikanischen Koalition selbst gegen jegliche Regeln des alteuropäischen Völkerrechts operierten, etwa im Manifest des Herzogs von Braunschweig vom 25. Juli 1792, mit dem die französische Republik ultimativ aufgefordert wurde, den König und die Adelsprivilegien wieder einzusetzen - bei Strafe der vollständigen "militärischen Exekution" und des "gänzlichen Ruins" der Hauptstadt Paris (56). Ausführlich führt Seibt auch die zahlreichen zeitgenössischen Quellen von Friedrich Christian Laukhard bis Andreas Georg Friedrich Rebmann an, in denen auf den Rechtsbruch aufmerksam gemacht wird, der an den Mainzer Republikanern vollzogen worden sei, da ihnen im Übergabeabkommen zwischen Preußen und Frankreich ein rechtlicher Schutz als "Geiseln" bis zur Beendigung der Kampfhandlungen gewährt worden war. Schließlich werden auch langlebige Mythen der gegenrevolutionären Propaganda entlarvt, wenn Seibt etwa durch einfache Zählungen belegt, dass sich am Mainzer republikanischen Club prozentual zur Bevölkerungszahl mehr Bürger beteiligten als die heutige Gesamtmitgliederzahl aller politischen Parteien zusammen ausmacht (26). In historischen Umbruchszeiten wie diesen wird so besonders deutlich, dass Rechtsformen keine überzeitlichen normativen Maßstäbe sind, sondern vor allem umstrittener Ausdruck der jeweiligen sozialen Herrschafts- und Machtverhältnisse.
In Goethes literarischen Werken der 1790er-Jahre sind diese Fragen allgegenwärtig. Wie akribisch er die Ereignisse und Debatten reflektierte, zeigt Seibt etwa anhand der Rahmenhandlung der Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten von 1794, die zeitlich und räumlich bis auf den Tag genau im Umfeld der Mainzer Ereignisse lokalisiert ist und deren Figurenpersonal ein Panorama der beteiligten Stände und politischen Fraktionen darstellt (66f.). Wird hier von Goethe vor allem auf die Gefahr eines kommunikationsverhindernden politischen Fanatismus auf beiden Seiten aufmerksam gemacht, arbeitet Seibt in Goethes zahlreichen weiteren literarischen Auseinandersetzungen mit der Revolution wie den Dramen Der Bürgergeneral und Die Aufgeregten, heraus, dass sie immer zugleich antirevolutionär wie antireaktionär und antihöfisch zu deuten sind. Dies gelte schließlich noch für Dichtung und Wahrheit, das nach Seibt als autobiografische Zeitgeschichtsschreibung gelesen werden sollte. Die Erlebnisse des Sommers 1793 werden hier 27 Jahre später zu einer kunstvollen Erzählung ausgeschmückt, mit der sich Goethe in den Diskurs der nun europaweit in serieller Form erscheinenden Revolutionsmemoiren einschreibt, in denen, wie Anna Karla kürzlich überzeugend herausgearbeitet hat, die Revolution in der Restaurationszeit als zeitgeschichtliches Ereignis medial noch einmal "erfunden" wird. [1] Goethes komplexe Haltung zu den tiefgreifenden gesellschaftlichen Umbrüchen lässt sich nach Seibt am ehesten dahingehend zusammenfassen, dass die Französische Revolution aufgrund der spezifischen Bedingungen des dortigen Absolutismus durchaus "Folge einer großen Notwendigkeit" (113) war, dass aber der Revolutionsexport nach Deutschland strikt abzulehnen sei, weil dort andere Verhältnisse herrschten, die von Goethe je nach Lesart mehr oder weniger gutgeheißen worden seien.
Noch komplexer werden diese Zusammenhänge, wenn man die luziden Beobachtungen aus Seibts erstem Goethe-Buch gegenliest, in der der Revolutionsexport ja erst im großen Stil begann. Nach der preußischen und damit auch weimarischen Niederlage gegen die napoleonische Armee hat sich Goethe sehr schnell die neuen Grundsätze des Code Civil als Rechtsnachfolger der Revolutionsverfassungen zu eigen gemacht: die Aufhebung der Standesschranken im Eherecht hat er unmittelbar für die Legalisierung seiner Beziehung mit Christiane Vulpius genutzt, wobei er als Erinnerungszeichen an die politischen Voraussetzungen der Heirat das Datum der preußischen Niederlage vom 14. Oktober 1806 an Stelle des Hochzeitsdatums in den Ehering eingravieren ließ. Seinen Sohn August schickte er zum Jura-Studium an die Rheinbunduniversität in Heidelberg, wo der Code Civil gelehrt wurde. In der immer engeren Zusammenarbeit mit dem frankophilen Johann Friedrich Cotta profitierte er von den neuen ökonomischen Möglichkeiten auf dem literarischen Markt durch das nun erstmals eingeführte geistige Urheberrecht. [2] Und zu seinen wichtigsten Briefpartnern dieser Phase wurden mit Carl Friedrich Zelter in Berlin, der die städtische Selbstverwaltung unter Aufsicht des französischen Stadtkommandanten leitete und Karl Friedrich Reinhard, der als Deutscher im französischen diplomatischen Dienst tätig war, Akteure, die nach altständischem und romantisch-frühnationalem Verständnis als Kollaborateure galten. Solche Praktiken sagen meist mehr aus als die wie immer rhetorisch motivierten, von der Kommunikationssituation und vielfältigen sozialen Zwängen geprägten expliziten Stellungnahmen: der Brief von 1793 richtet sich als Frontberichterstattung eines weimarischen Untertanen an den antirevolutionären Jacobi, im Zeugnis von 1820 stilisiert und historisiert sich der Weltliterat. Und diese Praktiken machen schlagartig die ganze Ambivalenz der revolutionären Herausforderungen der alten deutschen Fürstentümer für Goethe und die große Mehrheit der deutschen Intellektuellen zwischen Besatzung und Befreiung deutlich. Nicht die Kategorie des "Exportes" von anderswo nicht passenden Rechtsverhältnissen wäre dann die entscheidende differentia specifica in Goethes Bewertung der Revolution, sondern die - von Seibt ebenfalls ins Zentrum gestellte - Kategorie der "Ordnung". Mit einem von einem starken Gewaltmonopol garantierten geordneten Umbau der Ständegesellschaft konnte Goethe sich offenbar gut arrangieren, auch wenn die neuen Rechtsgrundsätze "von außen" kamen.
Mit seinen überaus inspirierenden Goethe-Studien öffnet Seibt so ein weites Feld für eine Literaturgeschichtsschreibung, die sich als praxeologisch orientierte politische Ideengeschichte versteht. Damit verbunden ist eine doppelte Historisierung: Literatur wird konsequent als historische Quelle und Reflexionsform der jeweiligen politischen, ökonomischen und kulturellen Situation verstanden - eben als Zeitgeschichtsschreibung. Zugleich werden die jeweiligen Kategorien zu ihrer Deutung selbst historisiert, da es in der politischen Ideengeschichte keine neutralen Prozessbeobachter gibt.
Anmerkungen:
[1] Anna Karla: Revolution als Zeitgeschichte. Memoiren der Französischen Revolution, Göttingen 2014.
[2] Bernhard Fischer: Johann Friedrich Cotta. Verleger - Entrepreneur - Politiker, Göttingen 2014.
Iwan-Michelangelo D'Aprile