Gustav Seibt: Goethe und Napoleon. Eine historische Begegnung, München: C.H.Beck 2008, 256 S., 30 Abb., ISBN 978-3-406-57748-2, EUR 19,90
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Im Laufe des spektakulären Fürstenkongresses 1808 in Erfurt wurde Goethe am 2. Oktober von Napoleon beim Frühstück empfangen. Diese "historische Begegnung", über die Goethe selber immer geheimnisvoll schwieg, wurde seither in der deutschen Kulturgeschichte als ein symbolisches Treffen aufgefasst und in den Goethe-Biografien mit gebührendem Respekt dargestellt. Auf französischer Seite nimmt hingegen die knapp einstündige Episode keinen so großen Platz ein. In seinen vielen Briefen aus Erfurt erwähnt Napoleon Goethe mit keinem Wort, und die drei Seiten, die André Castelot in seiner zehnbändigen "Histoire de Napoléon Bonaparte" der Begegnung widmet, beruhen völlig und wörtlich auf Goethes eigener Skizze der "Unterredung mit Napoleon" in seinen autobiografischen Einzelheiten.
Laut dieser späten Skizze erklärte Napoleon, dass er "Werther" wiederholt gelesen habe, und wies Goethe auf eine nicht "naturgemäße" Stelle im Roman aufmerksam hin; er äußerte sich kritisch über Voltaires "Mahomet", den Goethe übersetzt hatte; und er machte einige Bemerkungen zum Zustand des gegenwärtigen französischen Theaters. Dann wandte er sich wieder dem Staatsmann Daru und dringenden finanziellen Angelegenheiten zu. Eine kurze Zeit später wurde der Dichterfürst nach ein paar weiteren Fragen zu seinen persönlichen Verhältnissen in Weimar entlassen.
Goethe hat selber zur Mythifizierung der Begegnung erheblich beigetragen, indem er im Gespräch mit Eckermann (2. Mai 1824) seinen weltgeschichtlichen Auftrag mit dem des Empereur verglich: "Napoleon erbte die französische Revolution, Friedrich der Große den schlesischen Krieg, Luther die Finsternis der Pfaffen, und mir ist der Irrtum der Newton'schen Lehr zutheil geworden." So wird die Audienz, wo Goethe mit dem Spruch "Vous êtes un homme" begrüßt wurde, von deutschen Betrachtern oft aufgefasst als die symbolische Begegnung von zwei gleichwertigen Fürsten: etwa Macht und Geist oder Politik und Dichtung.
Gustav Seibt hat dieser mythifizierenden Neigung glücklicherweise nicht nachgegeben. Er bezeichnet sein lesbar geschriebenes und klug bebildertes Werk, das vor allem auf Primärquellen beruht, stattdessen als "ein Buch der Erzählung, nicht der Interpretationen" (253). Den Auftakt bietet zunächst die "folgenreiche Nichtbegegnung mit Napoleon" in Weimar gleich nach der Schlacht bei Jena-Auerstedt. Diesem ereignisvollen Kapitel - am 14. Oktober wurde Goethes Haus am Frauenplan von betrunkenen französischen Tirailleurs besetzt, wobei der Dichter in persönliche Gefahr geriet - folgt eine breit ausholende Darstellung der Lektüren, Diskussionen und Dichtungen, in denen um diese Zeit das Spektrum der Meinungen über Napoleon in Deutschland ausgebreitet wird.
Anders als Wieland, der Napoleons Aufstieg seit Beginn mit Faszination beobachtet hatte, interessierte sich Goethe erst seit etwa 1804 für den französischen Emporkömmling. Als ihm klar wurde, dass es sich beim Empereur um ein europäisches, ja um ein geradezu mythisches Weltphänomen handelte, begann er den Diskussionen und Kontroversen aufmerksam zu folgen, allerdings ohne öffentlich Stellung zu nehmen. So las er neben Berichten Johann Friedrich Reichardts und Gustav von Schlabrendorfs einerseits die antinapoleonischen Äußerungen des liberalen Publizisten Friedrich von Gentz und andererseits die Lobpreisungen des geachteten Historikers Johannes von Müller. Dabei ging es nicht nur um die Gestalt Napoleons, sondern auch vor allem um die politikphilosophische Debatte über Universalmonarchie versus Gleichgewicht der Mächte.
Erst im dritten Kapitel kommt es zu einer detaillierten Darstellung der Begegnung in Erfurt, wobei wir von den üppigen Festlichkeiten hören, von den Räumlichkeiten und Tafel- und Sitzordnungen, von den Theaterdarstellungen, wobei Napoleons Starschauspieler Talma glänzte, und von dem von Goethe inszenierten Besuch Napoleons in Weimar, wo der Gast sich aber länger mit Wieland unterhielt und nur ein paar Worte an Goethe richtete.
Bis zu Napoleons Niederlage und Exil hielt Goethe fest an dem Glauben an "Meinen Kaiser", den er bei der Erfurter Begegnung gefasst hatte. Seibt schildert diese Hochachtung anhand der dichterischen Werke aus den Jahren 1812-14, in denen Goethe direkt oder indirekt seine hohe Meinung ausdrückt: der Trilogie von Gedichten, die an die französische Kaiserin Marie-Luise gerichtet wurden; des Gedichts "Timur und der Winter" aus dem "West-östlichen Divan", wo Timurs Feldzug gegen das chinesische Reich implizit mit Napoleons Feldzug nach Russland gleichgesetzt wird; und "Des Epimenides Erwachen", in dem sich Goethe als Epimenides dem "Dämon des Kriegs" (= Napoleon) gegenüberstellt.
Das fünfte Kapitel befasst sich schließlich mit dem andauernden "Napoleon-Gedenken beim alten Goethe", der Manzonis große Ode an Napoleon übersetzte, der sich ausführlich mit der neunbändigen Biografie Napoleons von Walter Scott beschäftigte, der eine Sammlung von Napoleon-Medaillen anlegte und der bis an sein Lebensende - auch wenn andere sich darüber lustig machten - mit Stolz den Orden trug, den ihm der Empereur 1808 verliehen hatte. In diesen Jahren festigte sich bei Goethe die Überzeugung, dass Napoleon wahrhaftig der Vertreter des Dämonischen sei, sogar ein "Halbgott", wie er Eckermann anvertraute (11. März 1828) - eine Auffassung, die Seibt mit dem Fazit charakterisiert: "So erscheint Goethes Begegnung mit Napoleon am Ende nicht als historische-politische Konjunktur, sondern als schicksalhafter Zufall, ja als Geschenk des Himmels" (244).
Weil die Dokumentation mit spezifischem Bezug auf das Treffen und auf Goethes Meinung über Napoleon so spärlich ist, muss sich Seibt manchmal auf Spekulationen verlassen: "Oder hat Goethe den Kaiser in diesen Tagen vielleicht doch gesehen?" (30). "Da wir [X] wissen, können wir mit [Y] rechnen" (120). Aber er hat die spärliche Goethe'sche Dokumentation in einer so reichen historischen und kulturellen Umgebung so geschickt und überzeugend kontextualisiert, dass dabei ein neues, facetten- und aufschlussreiches Bild der "historischen Begegnung" entstanden ist.
Theodore J. Ziolkowski