Yehuda Bauer: Der Tod des Schtetls, Berlin: Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag 2013, 364 S., ISBN 978-3-633-54253-6, EUR 24,95
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Yehuda Bauer beschäftigt sich in diesem Buch mit dem letzten Kapitel der Geschichte der "Schtetl" [1] in den ostpolnischen "Kresy", dem Gebiet, welches 1939-1941 unter sowjetischer Herrschaft stand, und heute zu Belarus bzw. der Ukraine gehört. Von den Fragen ausgehend, "was genau in den Schtetlech während der Shoah geschah [...], wie das Leben der Juden aussah, bevor sie ermordet wurden, und wie sie auf den plötzlichen, unerwarteten, für sie unerklärlichen Angriff auf ihr Leben reagierten" (19) setzt er die Forschungsergebnisse mehrerer lokalgeschichtlicher Untersuchungen miteinander in Beziehung, die er zwischen 2003 und 2007 publizierte [2], und verortet sie unter Rückgriff auf die einschlägige Literatur [3] in einem übergeordneten geopolitischen und sozialen Zusammenhang.
Bauer tritt mit dem Anspruch an, einen aus der Perspektive der Opfer geschriebenen Beitrag zur Geschichte der Shoah zu leisten. Exzellent verbindet er Lokal- und Mikrogeschichte mit Überlegungen zu allgemeinen Perspektiven auf die Shoah und das Verhalten von Menschen in von Krise, Konflikt und Verfolgung gekennzeichneten Lebensumständen. Seine Beschreibungen von Handlungsspielräumen und Entscheidungen lassen die Unterschiede zwischen dem polnischen Kernland und den relativ armen, ethnisch gemischten "Kresy" deutlich zu Tage treten. So zeichnet er ein überaus heterogenes Bild der lokalen jüdischen Gemeinschaften.
In der ersten, chronologischen Hälfte des Buches skizziert Bauer, dass der "Tod des Schtetls" in zwei Phasen verlief: Zunächst zerstörten die sowjetischen Machthaber die Gemeindestrukturen - einerseits durch Repression und Verbot, andererseits durch die Integration von Juden in das politische, wirtschaftliche und soziale System der Sowjetunion. "Kaum hatte sich das totalitäre System etabliert", so Bauer, fiel "eine reiche ethnische und religiöse Tradition, eine einzigartige Kultur, die sich über Jahrhunderte hinweg entwickelt hatte, innerhalb weniger Wochen wie ein Kartenhaus zusammen", ohne dass es dagegen Widerstand oder Protest gegeben habe (90f.). Ab Sommer 1941 verfolgten und ermordeten die Deutschen dann diejenigen, welche die Schtetl zuvor bewohnt und belebt hatten, und zerstörten damit endgültig deren Tradition und Kultur.
Im zweiten, thematisch strukturierten Teil des Buches setzt Bauer sich mit unterschiedlichen Akteurinnen und Akteuren und ihren Rollen im Kontext der Shoah auseinander, und arbeitet dabei verschiedene Faktoren heraus, die das Schicksal der Verfolgten beeinflussten: der Charakter des lokalen Okkupationsregimes, die Haltung der nichtjüdischen Bevölkerung, das Verhalten der Judenräte, die Anwesenheit von sowjetischen Partisaneneinheiten und die Dichte des Waldes in der Umgebung. Bauer hebt hervor, dass einerseits der Charakter und damit die Handlungsweise von Individuen in Schlüsselpositionen jeder Art, und andererseits schlichtweg der Zufall über den Verlauf von Ereignissen, das Verhalten jüdischer Gemeinschaften, und das Überleben von Einzelnen entschieden. Insgesamt stellt Bauer die Situation in den Kresy überzeugend als Kombination aus einer totalitären nationalsozialistischen Verfolgung und der Indifferenz, Ängstlichkeit oder antisemitischen Aggressivität des nichtjüdischen lokalen Umfelds dar. Gleichzeitig zeigt er auf, wo die Ereignisse in den Kresy Mechanismen exemplifizieren, die für genozidale Situationen typisch sind (239).
Wer eine strukturierte Vermittlung konzentrierter Informationen erwartet, wird den Stil des Buches ungewöhnlich finden: "Der Tod im Schtetl" ist historiographisches Slow Food. Yehuda Bauer erzählt Geschichten von Menschen und Orten, detailreich, konkret und fern von retrospektiver Romantisierung. Aus zahlreichen Fragmenten von Zeitzeugenberichten setzt er ein Bild zusammen, das Widersprüche sichtbar macht und weitere Fragen aufwirft. Die Studie gibt mithin die Komplexität der historischen Zusammenhänge, Verläufe und die Schwierigkeit, sie retrospektiv nachzuvollziehen, meisterhaft wieder. Mit seiner Art, an den Quellen entlang zu erzählen, vermittelt der Autor den LeserInnen das Gefühl, sich bei der Lektüre in der Geschichte zu bewegen und am Erkenntnisprozess teilzuhaben. Angesichts dessen verwundern allerdings die teilweise spärlichen Quellenangaben, die nicht immer eine durchgängige Nachvollziehbarkeit der Informationen erlauben.
Das Buch schließt an zwei Diskursstränge an, die der Autor seit Beginn seiner wissenschaftlichen Karriere maßgeblich mitgestaltete: die Kontroverse um die Einzigartigkeit der Shoah sowie die Diskussion des Verhaltens der verfolgten Jüdinnen und Juden. Diesbezüglich fragt Bauer danach, ob die jüdischen Gemeinden während der Verfolgung "einen gewissen Zusammenhalt bewahren" konnten und ob es "Amida" [4] gab: "unbewaffneten und bewaffneten Widerstand, um die Gemeinde funktionsfähig zu halten und der existentiellen Bedrohung, die vom deutschen Besatzungsregime ausging, die Stirn zu bieten" (27). Unter unbewaffnetem Widerstand fasst Bauer von Lebensmittelschmuggel über Schulunterricht bis zu gegenseitiger Hilfe in der Familie alle Handlungen, die auf ein gemeinschaftliches Weiterleben oder Überleben abzielten. In den "Kresy" kam die unbewaffnete "Amida" laut Bauer aufgrund der Geschwindigkeit des Massenmordes und der "elenden Lebensbedingungen an ihre Grenze" und konnte sich nur an einigen wenigen Orten entwickeln. (299).
Es ist kein Zufall, dass Bauer seine Ergebnisse gerade diesen beiden Diskursen zuordnet, sei es doch die Kombination zweier Elemente, welche die Shoah von allen anderen Genoziden abgrenze: "die präzedenzlose Totalität und Universalität der NS-Politik, die jeden einzelnen Juden ganz gleich wo auf der Welt zum Objekt der Vernichtung machte, und [...] der unbewaffneten Amida, einer Reaktionsform, die wir [...] nur bei Juden finden." (300)
Angesichts Bauers Behauptung, dass sich Jüdinnen und Juden während der Shoah ähnlich wie andere Menschen in genozidalen Situationen verhalten hätten, seines Ergebnisses, dass es in den "Kresy" "Amida" nur rudimentär gegeben habe, und vor allem angesichts der breiten Definition des "unbewaffneten Widerstandes" stellt sich allerdings die Frage, ob das Konzept von "Amida" tatsächlich ein Spezifikum der jüdischen Gemeinschaft ist - schließlich hat es auch bei anderen Gruppen, in anderen Verfolgungssituationen gegenseitige Hilfe sowie andere Maßnahmen zur Aufrechterhaltung des kollektiven Lebens gegeben. Da Bauer nicht glaubt, dass "die jüdischen Traditionen die Reaktionen der Juden auf den Völkermord auf bedeutende Weise beeinflusst hätten" (299) bleibt darüber hinaus unklar, woher "Amida" sich speist. Schließlich bleibt unklar, in welchem Verhältnis bewaffneter und unbewaffneter Widerstand zueinander stehen. Während Bauer mit Blick auf die teilweise zwei oder mehr Jahre bestehenden Ghettos ausführt, hier habe sich unbewaffnete Amida entwickelt, die dann in einem bewaffneten Aufstandsversuch kulminiert habe, kann er für die Kresy nachweisen, dass es dort weniger "Amida" als in Zentralpolen, aber mehr bewaffneten Widerstand gab. Das Konzept "Amida" bietet also Stoff für weitere Diskussionen, an denen sich Yehuda Bauer hoffentlich noch lange intensiv beteiligen wird. Auch abgesehen davon ist "Der Tod im Shtetl" ein fundamentaler Beitrag zur Geschichte einer bislang in der Forschung unterrepräsentierten Region und gleichzeitig ein außerordentlich gut lesbares Buch voller historiographischer und intellektueller Inspirationen.
Anmerkungen:
[1] Schtetl: jiddisch für kleine Stadt, bezeichnet die überwiegend jüdischen Kleinstädte mit einer ausgeprägten jüdischen Gemeinschaftsstruktur und Kulturlandschaft, die das heutige Bild von jüdischem Leben in Osteuropa vor der Shoah prägen.
[2] Vgl. Yehuda Bauer: Buczacz und Krzemieniec, in: Yad Vashem Studies 33 (2005), 245-306; ders.: Jewish Baranowicze in the Holocaust, in: Yad Vashem Studies 31 (2003), 92-152; ders.: Kurzeniec, a Jewish Shtetl in the Holocaust, in: Yalkut Moreshet (Tel Aviv, engl. Ausgabe) 1 (2003), 132-157; ders.: Die dunkle Seite der Geschichte. Die Shoah aus historischer Sicht. Interpretationen und Re-Interpretationen, Frankfurt/Main 2001; ders.: Novogrudek a Shtetl, in: Yad Vashem Studies 35 (2007), 35-70; ders.: Sarny and Rokitno, in: The Shtetl, edited by Steven T. Katz, Boston 2007, 253-289.
[3] Zu diesem Zweck greift er auf vor allem auf Werke von Shalom Cholawsky, Christian Gerlach, Jan T. Gross, Dov Levin, Dieter Pohl, Thomas Sandkühler, Shmuel Spector, Nechama Tec und Aharon Weiss zurück.
[4] Den Begriff "Amida" (Hebräisch: aufstehen gegen) prägte Yehuda Bauer in seinem 2001 erschienenen Buch "Die dunkle Seite der Geschichte. Die Shoah aus historischer Sicht. Interpretationen und Re-Interpretationen", Frankfurt/Main 2001,153-181.
Imke Hansen