Constance Brittain Bouchard: Rewriting Saints and Ancestors. Memory and Forgetting in France, 500-1200 (= The Middle Ages Series), Philadelphia, PA: University of Pennsylvania Press 2015, XVI + 362 S., ISBN 978-0-8122-4636-0, GBP 52,00
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Die Gedächtnisforschung und der Blick auf die Kulturen der Erinnerung haben seit mehreren Jahrzehnten nicht nur in der Mediävistik aus ganz unterschiedlichen disziplinären Perspektiven großen Anklang gefunden. Dabei ging man in jüngerer Zeit vor allem dem kreativen Prozess nach, in dem Vergangenheit und Gegenwart in der schriftlichen Erinnerung auf einander bezogen wurden. Dies ist auch das zentrale Thema der Studie Constance Brittain Bouchards. Sie entfaltet in ihrem lesenswerten Buch ein Panorama der Techniken des Erinnerns vom 6. bis zum 12. Jahrhundert, die sie kreative Erinnerung (creative memory) nennt. Sie untersucht Prozesse des Abschreibens, Umschreibens, des bewussten Bewahrens und Vergessens. Gleichzeitig analysiert sie, wie durch kompilatorische und modifizierende Leistungen und Vergessen Identitäten und Selbstverständnis geschaffen wurden.
Dabei handelt das Buch nicht nur von dem kreativen Umgang mit der Erinnerung an die titelgebenden Heiligen und Vorfahren, sondern auch in besonderer Weise von Besitz. Um zu verfolgen, wie Erinnerung konstruiert wurde und welche Funktionen die Erinnerung für die Zeitgenossen innehatten, gliedert Bouchard ihre Darstellung anhand von Quellengattungen und Themen in zwölf Kapitel, die sich zeitlich vom 12. zurück in das 6. Jahrhundert bewegen.
Die ersten beiden Kapitel beschäftigen sich mit Chartularen, die sich als eigene Gattung vor allem zwischen dem 11. und 13. Jahrhundert etablieren. Bouchard untersucht, wie die Kompilatoren der Chartulare die ihnen vorliegenden Dokumente während der Abschrift neu organisierten und so eine spezifische Vergangenheit aus den Archivalien heraus herstellten. Chartulare waren ein Weg, aus den Archivalien Sinn für die Gegenwart zu produzieren. In ähnlicher Weise greift das dritte Kapitel die kreative Erinnerung auf, wenn Bouchard den Zusammenhang zwischen Chroniken und Urkunden im 12. Jahrhundert untersucht. Die Chroniken gehen zwar strategisch unterschiedlich mit der Vergangenheit um, anhand einiger Beispiele (unter anderem Hugo von Flavigny, St.-Pierre-le-Vif in Sens) wird jedoch grundsätzlich gezeigt, wie in Klöstern Chroniken entstehen, die sich ebenso wie die Chartulare auf die Dokumente in ihren Archiven stützen und aus den Archivalien für die Bedürfnisse der eigenen Zeit jeweils eine neue Vergangenheit schaffen.
Im vierten Kapitel wendet sich die Autorin den Urbaren zu, die zumeist im 9. Jahrhundert als Teil der Organisation von Erinnerung entstanden, und verweist darauf, dass die Abschriften, die seit dem 11. Jahrhundert zirkulierten, von Schreibern geschaffen wurden, die in einer anderen Welt lebten und das Vokabular ihrer Archivalien nicht mehr verstanden. Die feudale Transformation, aus der diese Verständnisschwierigkeiten entstanden, setzt sie dabei nicht wie geläufig um das Jahr 1000, sondern um 900 an. Die geringe Überlieferungsdichte der Urbare erklärt Bouchard damit, dass die Urbare - ihrem zeitlichen Kontext enthoben - nicht mehr verständlich waren und sie darüber hinaus in den erzählenden Quellen keine Funktion einnehmen konnten. Urbare wurden also nur selten und nur deshalb abgeschrieben, weil es Mönche gab, die die Erinnerungsleistung der Vergangenheit zu würdigen wussten.
Das fünfte Kapitel beschäftigt sich mit den großen Fälschungen des 9. Jahrhunderts, den sogenannten pseudoisidorischen Dekretalen, den Diplomen für Le Mans und Benedictus Levita - allesamt Fälschungskomplexe, die neben Originalen auch aus gefälschtem Material bestehen. Sie entstanden zum einen, um bischöfliche Autorität zu stärken, zum anderen aber auch, um Besitzrechte durchzusetzen. Die Fälscher erfanden so eine Vergangenheit, um die Gegenwart - im wahrsten Sinne des Wortes - zu rechtfertigen. Leider wird hier in der Diskussion nicht auf die neueren Beiträge der Forschung zurückgegriffen. [1]
Die Kapitel sechs bis neun beschäftigen sich mit den verschiedenen Facetten der Erinnerung an die Karolinger und führen aus, wie verschiedene Publizisten (87) ein auf römischen, biblischen und fränkischen Einflüssen beruhendes Modell von Herrschaft entwickelten, das den Karolingern ein Image der gerechten und christlichen Herrscher zu geben im Stande war. Eine weitere Legitimationsstrategie habe darin bestanden, die Vorgängerdynastie der Merowinger als barbarisch und unfähig zu diskreditieren. Ihr Erfolg sei dabei so groß gewesen, dass die Forschung bis heute übersehen habe, dass 751 eine radikale Wende eingetreten sei (95). Eine Einschätzung, der man so nicht unbedingt folgen kann. [2] Letztlich wird nachgezeichnet, wie Einhard, Paulus Diaconus und die Metzer Annalen aus den Splittern der Erinnerung an die karolingischen Vorfahren jeweils ihre eigene bruchlose, dynastische Geschichte entwarfen. Eine Erinnerungspraxis, die von den Adelsgeschlechtern übernommen wurde und aus der sich die Lücken in der dynastischen Erinnerung adeliger Familien zwischen dem 7. und 8. Jahrhundert erklären lassen, wie Bouchard anhand der Etichonen und Robertiner im 10. Kapitel ausarbeitet.
Das achte und neunte Kapitel beschäftigen sich mit der Klosterlandschaft unter karolingischer Herrschaft, die aus Bouchards Sicht ein Desaster für die Klöster darstellte (128). So hätten die Karolinger ihre Autorität über die Klöster ausgeweitet, indem sie zum einen die Vergabe von Kirchengut in prekarischer Leihe an Laien betrieben sowie zum anderen die Klöster durch die Verleihung der Immunität enger an sich zogen. Primär am Beispiel von Flavigny zeigt sie darüber hinaus, dass sich der Verfall der Klöster ebenso in einem Rückgang der Schriftlichkeit niederschlug.
Die letzten beiden Kapitel wenden sich der Entstehung heiliger Landschaften in Gallien zu. Nachgezeichnet wird, wie bis in das 6. Jahrhundert hinein durch Einsiedler und Wandermönche eine Klosterlandschaft entstand. Da sich im 7. Jahrhundert die Kirchenhierarchien verfestigten, passte diese frühe Geschichte nicht mehr in die Erinnerung der Klöster, weshalb sie eine ungebrochene Erinnerung kreierten, die auf Märtyrern und Reliquien basierte.
Obwohl es der Verständlichkeit des Buches und der Argumentation keinen Abbruch tut, ist zu fragen, ob es methodologisch wirklich notwendig war, chronologisch vom 12. in das 6. Jahrhundert zurückzugehen. Durch die Konzentration auf einige der Beispiele hätten die manchmal etwas enzyklopädisch erscheinenden, aber immer gut zu verfolgenden Analysen, möglicherweise etwas mehr Tiefenschärfe gewinnen können. Zudem wäre im Rahmen der Fragestellung die Interpretation der Zusammenstellung einzelner Handschriften aus älterem Material von Interesse gewesen.
Bourchards thesenreiches Buch ist nicht nur der Erinnerung gewidmet, sondern zu großen Teilen auch dem Vergessen. Indem Bouchard die Narrative analysiert, welche die kreative Erinnerung aus der Vergangenheit herausschälen, deckt sie auf, wie die mittelalterlichen Autoren im komplexen Zusammenspiel von kreativer Erinnerung und Vergessen ihre Vergangenheit konstruierten. Auf diese Weise lenkt sie den Blick weg von einer Geschichte, die zeigen will, wie es gewesen ist, hin zu einer, die Vergangenheitsbilder der mittelalterlichen Epoche ernst nimmt. Sie zeigt, dass Historiker bereits auf eine konstruierte Vergangenheit zurückgreifen und die Aufdeckung der Konstruktionsmechanismen zur Grundlage neuer Interpretationen werden und so die Forschung bereichern kann.
Anmerkungen:
[1] Abigail Fiery: Codices and Contexts: The many Destinies of the Capitula Angilramni and the Challenges of Editing small Canon Law Collections, in: Zeitschrift für Rechtsgeschichte, KA 94 (2008), 88-312; Klaus Zechiel-Eckes: Auf Pseudoisidors Spur. Oder: Versuch, einen dichten Schleier zu lüften, in: Fortschritt durch Fälschungen?, hgg. von W. Hartmann/ G. Schmitz, Hannover 2002, 1-28; Ders.: Ein Blick in Pseudoisidors Werkstatt: Studien zum Entstehungsprozess der falschen Dekretalen, in: Francia 28,1 (2001), 37-90.
[2] Paul Fouracre: The Long Shadow of the Merowingians, in: Charlemagne. Empire and society, ed. by J. E. Story, Manchester 2005; Matthias Becher / Jörg Jarnut: Der Dynastiewechsel von 751: Vorgeschichte, Legitimationsstrategien und Erinnerung, Münster 2004.
Miriam Czock