Christine Tauber: Ludwig II. Das phantastische Leben des Königs von Bayern, München: C.H.Beck 2013, 386 S., 59 Abb., 2 Karten, ISBN 978-3-406-65197-7, EUR 24,95
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Der Untertitel des Buchs lässt vermuten, dass es sich um eine weitere Biografie des bayerischen Königs handelt. Eine solche hat im selben Jahr Oliver Hilmes vorgelegt, nicht ohne gelegentlich die Schlüssellochperspektive zu bedienen. [1] Anders bei Christine Tauber: zentrale Ereignisse und Konstellationen des Lebens werden, wenn überhaupt, sehr knapp und nüchtern referiert, zudem am Ende des Buchs im Kontext der politischen Ereignisse in einer Zeittafel zusammengestellt. Die Autorin analysiert stattdessen ein alternatives Leben, das sich in Bauten und Bildern verkörpert, die wiederum als Manifestationen der "fantastischen" Lebens- und Herrschaftsideen Ludwigs gelesen werden - "fantastisch" nicht im Sinne der regressiven Vokabeln "Märchenkönig" und "Märchenschloss", sondern als Umschreibung komplexer utopischer Projekte. Die chronologische Ordnung bleibt gewahrt. Aber nicht das Leben des jungen Ludwig steht am Beginn, sondern die Ausmalung des Schlafzimmers des Kronprinzen mit Szenen aus Tassos "Gerusalemme liberata", die Tauber als eine Matrix für das künftige "fantastische" Leben Ludwigs interpretiert. Und im letzten Kapitel werden nicht noch einmal die Umstände des Versinkens im Starnberger See erörtert, sondern die "Flug- und Fluchtfantasien" des Königs am Ende seines Lebens - vom Flug Rüdigers (aus Tassos "Orlando furioso") bis zum Projekt einer Ballonseilbahn über den Alpsee.
Tauber charakterisiert ihr Buch als einen "Essai" im Sinne Jacob Burckhardts (14). Das schließt entsprechende stilistische wie sprachliche Freiheiten ebenso ein wie den Verzicht auf Diskussionen des Forschungsstands, wobei Endnotenapparat und Literaturverzeichnis durchaus umfangreich ausfallen. In den ersten beiden Kapiteln geht es um Prägungen, Vorbilder und Einflüsse, denen Ludwig von seiner Kindheit bis in die ersten Regierungsjahre ausgesetzt war. Dazu gehören Bauten und Ausstattungen seines Vaters und Großvaters, anachronistische ritterliche Ideale, politische Konzepte, insbesondere das durch ultrakonservative Staatsrechtler vermittelte "monarchische Princip", sowie natürlich die massiven Einflussnahmen durch Richard Wagner und dessen künftige Ehefrau Cosima von Bülow. Hier reduziert die Autorin Wagners Rolle zu stark auf diejenige des "Jugendverderbers". Auch die Kennzeichnung des geplanten Münchner Festspielhauses und überhaupt des Festspielkonzepts als "höchst elitär" (106) überrascht. Herzstück des Buchs sind das dritte und vierte Kapitel, in denen Tauber die drei "Hauptwerke" des Königs behandelt: Neuschwanstein, Linderhof und - besonders ausführlich - Herrenchiemsee. Dabei wird auf systematische Darstellungen verzichtet, auch Grundrisse fehlen. Die Autorin greift exemplarisch einzelne Aspekte der Baugeschichte, der Architektur und der Ausstattung auf, um daran ihre zentralen Hypothesen und Methoden zu erproben: historische Kontextualisierung, Umsetzung politischer Konzepte und Utopieforschung. So auch im fünften Kapitel über die letzten Lebensjahre und Bauprojekte Ludwigs, dem noch ein Epilog zu Königsutopien im 19. Jahrhundert folgt.
Tauber betont die Belesenheit und darüber hinaus generell die intellektuelle Qualität der Rezeptionstätigkeit Ludwigs. Ergebnis sei eine "Baugesinnung", die im höchsten Maße als eklektizistisch, instrumentell und daher "hochpolitisch" (49) bezeichnet werden müsse. In der souveränen Verfügung über Stile der Vergangenheit ohne Rücksicht auf Zeitgenossenschaft und dynastische Tradition sei sie sehr verschieden von den Konzepten seines Vaters und Friedrich Wilhelms IV. von Preußen gewesen. Gerade um diesen Unterschied herauszuarbeiten, zeigt Tauber immer wieder auch Kontinuitäten zwischen Ludwigs Schlössern und anderen monarchischen Bauten und Projekten des 19. Jahrhunderts auf. Taubers konsequente historische Kontextualisierung arbeitet gegen den herkömmlichen Ruf Ludwigs als abgedrifteter Exzentriker. Selbst die despotischen Gewaltfantasien des Königs am Ende seines Lebens gelten hier als "nicht seltene Reaktion [...] hochsensitiver Persönlichkeiten" (284) auf die Modernisierungsschübe der Zeit und werden zudem auf die detaillierte Beschäftigung Ludwigs mit dem byzantinischen Hofritual bezogen.
Die semantischen Dimensionen von Schloss Neuschwanstein erfasst Tauber in mehreren Schritten: zunächst werden reale, entferntere (Alhambra) oder konkretere (die Akropolis-Planungen Ottos von Wittelsbach, Maximilianeum in München) Vorbilder sowie fiktive bzw. literarische Archetypen (Gralsburg) mitsamt ihren politischen Implikationen aufgerufen. Im Zentrum steht aber die Ausstattung des Thronsaals, in der sich Ludwig mithilfe der christlichen Ikonografie als höchste legislative, exekutive und rechtsprechende Gewalt inszeniere und damit im Sinne des "monarchischen Princips" die in der bayerischen Verfassungsurkunde von 1818 festgeschriebene Gewaltenteilung rückgängig mache. Ganz anders die ausschließlich auf die Person des Königs bezogene Konzeption von Schloss Herrenchiemsee, geprägt durch Strategien der "Enträumlichung" und "Entbajuvarisierung" (241), die das defizitäre bayerische Königtum negierten. Der Ludwig XIV. vergötternde und sich mit Ludwig XV. identifizierende bayerische König habe hier durch gezielt collagierte Versailles-Zitate die beiden Appartements des Schlosses als "völlig parallel strukturierte Universen" errichtet, "die zeitverschoben funktionieren": eine "imaginäre Wachablösung ad infinitum" (236), bei der nachts Ludwig II. wache, bevor am Tag wieder der Sonnenkönig das Regiment übernehme.
Hier ist ein Ansatzpunkt für das zentrale Thema Taubers: Ludwigs Bauten seien nicht nur "Verbildlichungen eines Herrschaftskonzepts", sondern eine utopische "Hyperrealität" (259). Diese zeige sich in Herrenchiemsee in der Rückkehr zu einer zyklischen, vormodernen Zeitordnung. Die dekontextualisierten Gartenstaffagen von Schloss Linderhof seien "Zeitkapseln", in denen der königliche Rezipient "den Stillstand von Modernisierungsdynamik und von Zeit überhaupt" (194) erleben konnte. Immer wieder inszeniere der König Wegführungen als Initiationsriten "des Übergangs von der Realität zur Utopie" (267), etwa in der Grotte von Neuschwanstein oder der doppelten Kehre des nördlichen Treppenhauses von Herrenchiemsee, bei welcher der Rezipient die Orientierung verliere. Tauber ist sich bewusst, dass es sich im Rahmen der Modernisierungsdynamik des 19. Jahrhunderts eher um Anti-Utopien handelt und kontextualisiert sie durch ähnlich utopische Projekte "glücklose[r] Herrscher", etwa Friedrich Wilhelms IV. oder Erzherzog Maximilians von Österreich (313-315).
In der Verbindung von konsequenter Historisierung, politischer Ikonografie und Utopieforschung liegt das Verdienst dieses an Erkenntnissen reichen und weitgehend überzeugenden Buches. Mit der starken Betonung politischer Konzepte, gerade auch in Ludwigs Eklektizismus, und der Historisierung des utopischen Potentials setzt sich Tauber von der zentralen Ludwig-Monografie von Hans Gerhard Evers [2] ab und hält auch Distanz zu Versuchen, die Schlösser Ludwigs als eskapistische Ursprünge moderner Unterhaltungskultur zu deklarieren. [3] Durch die fast ausschließliche Ausstattung mit historischen Schwarz-Weiß-Fotografien wird schließlich auch auf visueller Ebene Historisierung betrieben und so jegliche Assoziation mit dem im kollektiven Gedächtnis verankerten farbigen Postkartenkitsch vermieden.
Anmerkungen:
[1] Oliver Hilmes: Ludwig II. Der unzeitgemäße König, München 2013.
[2] Hans Gerhard Evers: Ludwig II. von Bayern. Theaterfürst - König - Bauherr. Gedanken zum Selbstverständnis, München 1986.
[3] Stephan Sepp: Von "Ludwigsland" nach "New Neuschwanstein". Studien zu Kunst und Eskapismus im 19. und 20. Jahrhundert. Von den Ursprüngen der Unterhaltungskultur in Europa am Beispiel der Bauten Ludwigs II. von Bayern und Disneyland in Kalifornien, Diss. Stuttgart 1998.
Bernd Mohnhaupt