Hermann Rumschöttel: Ludwig II. von Bayern (= C.H. Beck Wissen; 2719), München: C.H.Beck 2011, 128 S., 23 s/w-Abb., ISBN 978-3-406-61216-9, EUR 8,95
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Kaum eine Persönlichkeit der deutschen Geschichte hat es zu solcher Popularität gebracht wie Ludwig II. von Bayern. Sieht man von Ludwigs neuerlichem Auftritt als mythischer Märchenkönig in den jüngsten Fernsehproduktionen einmal ab, so ist der vierte Monarch des Königreichs Bayern spätestens mit der ambitionierten, anlässlich seines 125. Todestags initiierten Bayerischen Landesausstellung "Götterdämmerung" (14.05 - 16.10.2011) auf Schloss Herrenchiemsee einmal mehr ins Bewusstsein nicht nur der deutschen, sondern der europäischen Öffentlichkeit gerückt worden.
Die geschichtswissenschaftliche Bewertung Ludwigs II. indes wird deswegen nicht weniger problematisch. Denn eine gewissenhafte historische Bewertung muss dem Politiker, der den Thron besteigt in der "nach der napoleonischen Zeit schwierigsten Phase der bayerischen Geschichte" (11), ebenso gerecht werden wie dem Bauherrn und dem Kunstliebhaber. Zugleich darf Ludwigs Vereinnahmung als "zeitlose Kultfigur" (114) ebenso wenig aus dem Blick geraten wie diesen trüben: "Wenn nur Segmente des Lebens eines Menschen in den Blick genommen und beurteilt werden, kann das nur zu einer Teilgerechtigkeit führen." (13)
Hermann Rumschöttel, bis Ende Februar 2008 Generaldirektor der Staatlichen Archive Bayerns, hat die schwierige Aufgabe, ein konzises Porträt dieses "Grenzgänger[s]" (13, 95, 113, 116) zu entwerfen, in beachtlicher Weise gemeistert. Der knappe Raum der Beck Reihe "Wissen" hindert Rumschöttel dabei nicht daran, eine differenzierte Gliederung aufzusetzen: In 16 (!) überschaubaren Kapiteln werden verschiedene Facetten (der Herrschaft) Ludwigs II. mosaikartig zusammengetragen. Das dezidiert kleine Format der Monografie wird dabei nicht unnötig überstrapaziert. Vielmehr setzt Rumschöttel bewusst Schlaglichter, die in zielstrebiger Argumentation das Leben und Wirken Ludwigs II. thematisch abstecken und dem Leser zugänglich machen. Auf diese Weise findet sich auch Platz für 23 Abbildungen verschiedenen Typs (Fotografie, Kupferstich, Malerei), eine Zeittafel (117-121), eine genealogische Übersicht (122), ein knappes, aber sinnvoll abwägendes Literaturverzeichnis (123-125), sowie ein Personenregister (126-128).
Die Darstellung selbst zeichnet sich durch Rumschöttels konsequentes Bestreben aus, Ludwig II. selbst und seinen Zeitgenossen das Wort zu überlassen. So lässt der Autor den König zum populären "Verdikt vom Nichtregieren" persönlich anmerken: "Ein Schattenkönig ohne Macht will ich nicht sein." (38) Anderenorts ist es der Philosoph und Theologe Johannes Huber, ein enger Vertrauter des jungen Königs, den Rumschöttel im zweiten Abschnitt, "ein frühes Persönlichkeitsbild" (14-19) des Monarchen entwerfen lässt. Hubers "dichte [...] Zeichnung des Ambivalenten" (19) offenbart dabei anschaulich jene Zwiespältigkeit Ludwigs II., die auch später immer wieder als ein Persönlichkeitsmerkmal des Königs herausgestellt wird. So konstatiert Rumschöttel mit Blick auf Ludwigs Innenpolitik "recht ambivalente Positionen" (78) und sieht in seinem späten Bedauern, den "Kaiserbrief" Bismarcks ratifiziert zu haben, angesichts fehlender politischer Handlungsalternativen einen "Ausdruck seines ambivalenten Naturells" (67).
Aus dem breitgefächerten Quellenkorpus der Darstellung werden vielfach umfangreiche Abschnitte in den Fließtext übernommen. So etwa, wenn Rumschöttel im Kapitel über "Bismarck, die Hohenzollern und das Deutsche Reich" (69-74) nahezu eine ganze Seite einräumt für einen Auszug aus den Memoiren Otto von Bismarcks (69), der dem Leser einen Einblick in das erste Treffen des späteren Reichskanzlers mit Ludwig II. ermöglicht. Angesichts dieser großzügigen Quellenzitate - weitere Beispiele sind Ludwigs briefliche Äußerung zum Sozialistengesetz (44-45) oder die Ausführungen des Kabinettssekretärs Alexander von Schneider zur Debatte über die Regierungsunfähigkeit Ludwigs (106-107) - scheint es indes fraglich, ob die ostentative Modernisierung der Orthografie (125) tatsächlich sinnvoll ist. Es wäre gerade aufgrund des häufigen Ineinandergreifens von wissenschaftlicher Metasprache und ausführlichem Zitat passender gewesen, die zeitgenössische Schreibung beizubehalten und die Quellenauszüge dadurch deutlich abzuheben.
Rumschöttel gelingt eine durchweg behutsam abwägende, sinnvoll akzentuierende Darstellung. Stellenweise regt das Nichtvorhandensein spekulativer Zugänge den Leser auch zu eigenen Überlegungen an, etwa bei der Frage, ob in Ludwigs II. "funktionale[r], strenge[r] und lieblose[r] Erziehung" (20) die Ursache zu suchen ist für die engen Bindungen zu Otto von Bismarck, Richard Wagner und Johannes Huber, die Rumschöttel expressis verbis als "Vaterfiguren" (71) bezeichnet. Hervorzuheben ist zudem der betont respektvolle Umgang des Autors mit Ludwigs II. Privatsphäre, wenn er zu seinen homoerotischen Neigungen anmerkt: "Ein Recht, die Grenze zu diesem höchstpersönlichen Lebensbereich zu überschreiten, besteht nur dann, wenn und soweit Einzelheiten politische Bedeutung und damit historische Relevanz erlangt haben." (97) Bekanntlich ist anderen Staatsmännern, wie namentlich Friedrich dem Großen, weit weniger zurückhaltend begegnet worden, wenn man ihm aufgrund seiner Kinderlosigkeit eher Zeugungsunfähigkeit oder eine Geschlechtskrankheit unterstellte, als eine mögliche Homophilie in Betracht zu ziehen. [1] Etwas deplatziert wirkt einzig die diffuse Polemik im letzten Kapitel gegenüber nicht näher benannten "Spezialisten" (in Anführungszeichen!) und "pseudowissenschaftlichen Enthüllungen" (115,114), die aus der ansonsten taktvollen Darstellung unangenehm heraussticht.
Insgesamt ist Hermann Rumschöttel eine kurzweilige, quellennahe und gut lesbare Monografie gelungen. Der Autor behandelt dabei nicht nur politische Fragestellungen, sondern nimmt ebenso Ludwigs II. Hingabe zur Musik, die so prominente Baupolitik des Wittelsbachers, sowie die komplizierte Frage nach seiner geistigen Umnachtung in den Blick. Dabei zeigt sich Rumschöttel auch offen für anekdotische Zugänge. So habe sich die Begeisterung des Königs für Architektur schon an Weihnachten 1852 gezeigt, als der damals siebenjährige Kronprinz "das Siegestor aus Baustein-Holzen" (26) errichtete. Besonders aufschlussreich war für den Rezensenten die Einsicht, dass die "Mythologisierung des Königs" (113) keineswegs ein Produkt des 20. Jahrhunderts darstellt, sondern bereits in den Zeitungsberichten über die Beisetzung Ludwigs II. ihren Anfang nahm: "Der irdische Grenzgänger Ludwig II. erhält einen Doppelgänger, der nicht von dieser Welt ist." (113) Ob nun aber der historische oder mythische Ludwig II. - dass das Charisma des Monarchen bis heute wirksam ist, demonstriert Rumschöttel indirekt selbst, wenn sich in seiner Publikation eine direkte Empfehlung an den Leser findet: "Will man dem Denken und Fühlen König Ludwigs II. näherkommen, sollte man nach Hohenschwangau fahren [...]." (22)
Anmerkung:
[1] Siehe die jüngste Bewertung von Wolfgang Burgdorf: Friedrich der Große. Ein biografisches Porträt, Freiburg u.a. 2011, 76-103.
Marc Bauer