Rezension über:

Amy Singer / Christoph K. Neumann / Selçuk Akşin Somel (eds.): Untold Histories of the Middle East. Recovering voices from the 19th and 20th centuries (= Routledge Studies on the Middle East; 12), London / New York: Routledge 2011, XII + 259 S., ISBN 978-0-415-57010-7, GBP 75,00
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Rezension von:
Christine Schirrmacher
Bonn
Redaktionelle Betreuung:
Stephan Conermann
Empfohlene Zitierweise:
Christine Schirrmacher: Rezension von: Amy Singer / Christoph K. Neumann / Selçuk Akşin Somel (eds.): Untold Histories of the Middle East. Recovering voices from the 19th and 20th centuries, London / New York: Routledge 2011, in: sehepunkte 15 (2015), Nr. 10 [15.10.2015], URL: https://www.sehepunkte.de
/2015/10/27880.html


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Forum:
Diese Rezension ist Teil des Forums "Islamische Welten" in Ausgabe 15 (2015), Nr. 10

Amy Singer / Christoph K. Neumann / Selçuk Akşin Somel (eds.): Untold Histories of the Middle East

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Warum erlangen manche historischen Personen und Geschehnisse in der Forschung kaum Aufmerksamkeit und werden von Diskursen über zeitlich und geographisch "benachbarte" Ereignisse überlagert? Aus welchem Grund werden manche gesellschaftlichen Entwicklungen des Nahen Ostens in den Kulturwissenschaften so weit ausgeblendet, dass sie als Tabubereich von Forschung und Diskurs weitgehend ausgenommen sind?

Die insgesamt elf Beiträge dieses Sammelbandes widmen sich der Beantwortung dieser Fragen. Beispielhaft behandeln sie das Verschweigen bzw. die Vernachlässigung einzelner Forschungsfragen aus Gesellschaft, Politik und Geschichte des Nahen Ostens bis an die Schwelle des 21. Jahrhunderts. Sie erläutern einzelne Beispiele marginalisierter Ereignisse und Personen, fragen nach den Ursachen für Negation und Vermeidung dieser Themen und den daraus folgenden vorherrschenden Narrativen in Gesellschaft und Wissenschaft. Geographisch geht es um Ägypten, Iran, Palästina und die Türkei bzw. das Osmanische Reich, das nicht nur den Forschungsschwerpunkt der drei Herausgeber bildet, sondern - aufgrund seines Quellenreichtums nicht überraschend - in diesem Sammelband den größten Raum einnimmt.

Die Perspektive des Bandes richtet sich also weniger auf Institutionen (wie Staat oder Armee) als auf Individuen und ihr Handeln, auf Berichte Einzelner über ein historisches Ereignis (wie etwa Bürgerkriege oder diplomatische Bemühungen) sowie auf die Nutzbarmachung, Dehnung und Überschreitung gesellschaftlicher Konventionen durch Einzelne. Die "zum Schweigen gebrachte Geschichte" soll in diesem Band ein Forum erhalten und damit der dominante Diskurs - in manchen Fällen "die einzige historische Realität" (2) - durch weitere Perspektiven ergänzt und korrigiert werden. Durch den Fokus der Autoren auf das Individuum folgen sie der Tradition des "cultural turn"; sie möchten dem lange in der Forschung dominanten "kolonialistischen Diskurs", dem "Modernisierungsdiskurs", dem "nationalistisch-historiographischen" und dem "patriarchalischen" Diskurs einen Kontrapunkt entgegensetzen.

Die Beiträge sind drei Themenkreisen zugeordnet: Die ersten drei Aufsätze widmen sich der Thematik der gesellschaftlichen Stellung der Frau, jedoch unter ungewohnter Fragestellung: Es geht hier einmal um die in der Forschung noch kaum behandelte Frage nach dem Schicksal der durch den Armenier-Genozid verwaisten Kinder und Frauen nach 1915, die eine islamische Ehe eingingen oder aber als "Krypto-Armenier" nur zum Schein zum Islam konvertierten. Obwohl über das Schicksal dieser bis zu 200.000 Frauen und Kinder reichlich Material für die Recherche zur Verfügung steht und die Forschung zum Völkermord an sich bereits weit vorangekommen ist, ist dieser Bereich bisher weitgehend vernachlässigt worden. Der nächste Beitrag dokumentiert die Eheschließung zwischen nicht-muslimischen Frauen und muslimischen Männern in Ägypten zwischen 1925 und 1936 und arbeitet die (vermutlich zur späteren Konfliktvermeidung überdeutlich formulierten) Verweise auf die Gehorsamspflicht der Frauen oder die Möglichkeit der Polygamie heraus. Diese 120 Verträge dokumentieren Ehen, die von ägyptischer Seite offen missbilligt wurden und vor denen die britischen Kolonialherren die Ehekandidatinnen mit aller Entschiedenheit warnten. Und auch der dritte Beitrag nimmt eine alternative Forschungsperspektive ein, wenn er Einzelfälle vorehelicher Liebesbeziehungen Ende des 19. Jahrhunderts im Nahen Osten dokumentiert und diese Fälle mit einem häufig allein am schariarechtlichen Verbot solcher Liaisons orientierten westlich-orientalistischen Diskurs kontrastiert. Aus den Quellen wird deutlich, dass eine theoretisch schariarechtlich geforderte Bestrafung (Auspeitschung, Steinigung) oder privatrechtliche Vergeltung (durch Ehrenmord) in der Regel durch verschiedene "Vermeidungsstrategien" umgangen wurde - auch wenn einer Heirat zur Legalisierung des Verhältnisses durchaus eine mehrmonatige Gefängnisstrafe für die beiden Beteiligten vorausgehen konnte.

Die folgenden fünf Aufsätze beschäftigen sich mit Einzelpersonen, deren Biographien ungeachtet ihres großen Einflusses auf die Geschichte und Politik ihres jeweiligen Landes bisher in der Forschung kaum Beachtung gefunden haben, und die letzten drei Beiträge befassen sich unter der Überschrift "Memories of conflicts" mit fehlenden Bezügen bei arabischen Autoren auf den Islam auf dem Balkan, dem historisch nur geringfügig aufgearbeiteten Arabischen Aufstand 1936-1939 im britischen Mandatsgebiet Palästina und dem Armeniergenozid von 1915; dieser letzte Beitrag möchte mit der Betonung der dem Beginn des Völkermordes unmittelbar vorausgehenden eskalierenden Konflikt zwischen Armeniern und Türken einen weiteren, regional argumentierenden Forschungsansatz für den Ausbruch des Massakers hinzufügen, der aus Sicht des Autors für das Verständnis der Gewalttaten unverzichtbar ist.

Alle Beiträge sind Ergebnis eines Workshops der Universitäten Tel Aviv, Sabancı und Istanbul aus dem Jahr 2007. Sie beruhen sämtlich auf neu erschlossenen Primärquellen. Dabei wurden unterschiedliche Zugänge zu den einzelnen Forschungsfragen gewählt. Es wurde nicht nur neu erschlossenes Archivmaterial (vor allem aus der heutigen Türkei und Griechenland), sondern auch Interviews, fiktionale Literatur und Memoiren herangezogen und damit die so oft angemahnte Methodenvielfalt in der Kulturwissenschaft überzeugend in die Praxis umgesetzt.

Die Autoren haben mit ihrem Vergrößerungsglas, das sie in diesem Band auf einzelne Ereignisse und deren Interpretation in der Geschichte des 20. und 21. Jahrhunderts anlegen, zahlreiche interessante und auch neue Perspektiven herausarbeiten können. Sie machen geradezu neugierig auf die Suche nach weiteren marginalisierten Narrativen in Geschichte und Gegenwart des Nahen Ostens.

Christine Schirrmacher