Jean Drèze / Amartya Sen: Indien. Ein Land und seine Widersprüche. Aus dem Engl. übers. von Thomas Atzert und Andreas Wirthensohn, München: C.H.Beck 2014, 376 S., ISBN 978-3-406-67029-9, EUR 29,95
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Nach einer Reihe allgemein gehaltener Beiträge zu gegenwärtigen Debatten der Philosophie und Sozialwissenschaft [1] wendet sich der Ökonom und Nobelpreisträger Amartya Sen gemeinsam mit Co-Autor Jean Drèze erneut Indien zu. Bei ihrem jüngsten Buch handelt es sich um eine problemorientierte Bestandsaufnahme der gegenwärtigen wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse im Land. Durchaus konsequent ist es im Geist der vorangegangenen Überlegungen Sens zu gesellschaftlichen Entwicklungen und Problemen verfasst. Vor allem die - nach Sen - tiefe innere Verbindung von wirtschaftlicher Entwicklung und Freiheit im menschlichen wie staatsbürgerlichen Sinn [2] stellt ein Leitthema des vorliegenden Werks dar. Obwohl das Buch in theoriebildender Hinsicht also wenig Neues bietet, handelt es sich um eine präzise und durchweg überzeugende Studie.
Im Zuge des rasanten Wirtschaftswachstums und des Aufstiegs Indiens in den Club der sogenannten BRICS-Staaten, der aufstrebenden Schwellenländer, ist die Analyse der ökonomischen und politischen Verhältnisse im Land zu einem vielbeackerten publizistischen Feld geworden. Im Zentrum der Betrachtung steht dabei meist der indische Staat, beziehungsweise der öffentliche Sektor, die beide durchweg schlecht wegkommen - ob es sich nun um die Diagnose einer verfehlten, unternehmens- statt marktfreundlichen Politik handelt, die "crony capitalism" begünstige [3], oder dem Staat grundsätzliches Versagen bei gesellschaftlichen Interventionen attestiert wird. [4]
Sen und Drèzes Studie wählt eine andere Perspektive, die von einer Kritik des aktuellen politischen Betriebs absieht. Entsprechend, und durchaus wohltuend, ersparen die Autoren der Leserschaft die Darstellung der zahlreichen und komplexen Korruptionsskandale und legen den Akzent weg vom Staat und seinem konkreten Personal. Die Studie richtet den Blick stattdessen zunächst auf die generellen Probleme Indiens beim Einsatz staatlicher Mittel und weitet ihn auf ein gesellschaftliches Klima, das ihre gegenwärtige Mangelhaftigkeit befördert.
Neben dem Vorwort gliedert sich das Buch in zehn reichhaltig mit Statistiken unterlegte Kapitel, von denen das letzte den zusammenfassenden Schlussteil bildet. Nach einer thematischen Hinführung, einem wirtschaftshistorischen Überblick über die Jahrzehnte seit der Unabhängigkeit und einer vergleichenden Einordnung des Landes in den gegenwärtigen globalökonomischen Horizont behandeln die übrigen sechs Kapitel mehr oder weniger spezifische, an vielen Punkten zusammenhängende Problemfelder. Diese Themengebiete, die nach Ansicht der Autoren drängenden Reformbedarf aufweisen, sind: Korruption und Ineffizienz, Bildungssektor, Gesundheitswesen, Armut, Ungleichheit, und schließlich die gesellschaftliche Problemwahrnehmung.
Die Verfahrensweise der Autoren, die sich des Zusammenhangs zwischen ihren Einzelbetrachtungen stets bewusst bleiben, gestattet einige beunruhigende und manchmal geradezu deprimierende Einblicke in die Verhältnisse im Land. Diese mögen für Indienkenner wenig überraschend ausfallen, werden aber überzeugend präsentiert und sind stets eindrucksvoll mit statistischem Material belegt. So ist es in der Tat bemerkenswert, dass in einem Schwellenland ein signifikanter Bevölkerungsteil - mehrere hundert Millionen Menschen in absoluten Zahlen - unter Bedingungen leben muss, die häufig schlechter ausfallen als jene in weiten Teilen des subsaharischen Afrika, dessen Staaten vielfach als Paradebeispiele prekärer Lebensverhältnisse gelten. Auch im südasiatischen Vergleich schneidet Indien im Hinblick auf eine ganze Anzahl an Indikatoren (wie beispielsweise dem Human Development Index) auffallend schlecht ab, vor allem gegenüber dem deutlich ärmeren Nachbarn Bangladesch. Ins Auge stechen dabei zudem die beträchtlichen innerindischen Unterschiede, die Nordindien - und insbesondere die Gangesebene, die in Aravind Ardigas Booker Prize-prämiertem Werk The White Tiger nicht umsonst als Kernland der großen "Darkness" firmiert - in vieler Hinsicht als Schlusslicht erscheinen lassen.
Die Analyse der einzelnen Problemfelder fällt ebenso ernüchternd wie umsichtig aus. Die notorische Inkompetenz und Behäbigkeit der indischen Behörden wird anhand des desaströsen nordindischen Stromausfalls im Juli 2012 exemplifiziert. Wie an anderen Stellen auch behandeln Sen und Drèze den Fall aber nicht als isoliertes Beispiel, sondern als Nexus verschieden gelagerter Missstände. So verfügte ein Drittel der betroffenen Bevölkerung noch nicht einmal über einen Stromanschluss. Damit wirft der Netzkollaps zugleich ein Schlaglicht auf Entwicklungsungleichgewichte und schwerwiegende Infrastrukturdefizite. Dieselbe Sorgfalt beweisen die Autoren auch in ihren Ausführungen zu den übrigen Themenkomplexen.
Dabei gehen sie mit der öffentlichen Hand nicht eben zimperlich ins Gericht, weisen jedoch die Forderung nach weitreichender Privatisierung staatlicher Leistungen (und damit die faktische, in aktuellen Governance-Diskursen beliebte Synonymie von Korruption und öffentlichem Sektor [5]) zurück. Die Entfaltung ihres kritischen Arguments vollzieht sich vielmehr um drei zentrale Begriffe: Da wären die "Strukturen der Verantwortlichkeit", die es zu etablieren gelte (106); dann die "menschlichen Verwirklichungschancen", denen für ein inklusiveres Wirtschaftswachstum zum Durchbruch verholfen werden müsse (10). Und schließlich betonen die Autoren die Zentralität des "Erziehens, Agitierens, Organisierens" im Sinne energischer Interventionen im öffentlichen Raum (31), um Aufmerksamkeit für die Anliegen der armen und marginalisierten, jedoch medial und politisch weitgehend unsichtbaren Mehrheitsbevölkerung zu erzeugen.
Trotz der augenscheinlichen Einsichtigkeit dieser Schlussfolgerungen sind jedoch gerade sie die zentrale Schwachstelle der Publikation. Von (vermutlich von NGOs anzustoßenden) breitenwirksamen Aufmerksamkeitskampagnen abgesehen bleibt im Dunkeln, wie sich der von Sen und Drèze vergegenwärtigte Wandel weg von der vielgestaltigen Ungleichheit vollziehen soll - ein erhebliches Manko in einer Studie, die strikt positivistisch argumentiert und an den Basiskategorien der Vergesellschaftung über Markt und Wachstum nichts auszusetzen hat. Die bei allem analytischen Scharfsinn ebenso ostentative wie unverständliche Unfähigkeit, auch gesellschaftliche Dynamiken der Ungleichheit und Polarität begrifflich zu fassen, die allein schon durch jene Basiskategorien (ganz zu schweigen von ihrem Zusammenspiel mit anderen, landes- und kulturspezifischen Faktoren wie dem Kastenwesen) in Gang gesetzt und am Laufen gehalten werden, stumpft die mögliche Schärfe ihres Urteils leider auf wiederholt vorgetragene Appelle an Vernunft und demokratisches Engagement ab.
Sen und Drèze ist zugute zu halten, dass sie nicht in den populären neoliberalen Kanon wirtschaftspolitischer Unmenschlichkeiten einstimmen. Jedoch hätte ihre überreichlich mit empirischem Material gesättigte Studie ein pointierteres Fazit und stellenweise eine etwas weniger umständliche Übersetzung verdient gehabt. Nichtsdestoweniger haben beide ein hervorragend recherchiertes und anschaulich argumentierendes Buch vorgelegt, an dem für makroökonomische Betrachtungen Indiens auf absehbare Zeit kein Weg vorbeiführen wird.
Anmerkungen:
[1] Eine Auswahl: Amartya Sen: Peace and Democratic Society, Cambridge (UK) 2011; idem: The Idea of Justice, London 2010; idem: Identity and Violence: The Illusion of Destiny. Issues of Our Time, New York 2006.
[2] Siehe dazu v.a. Amartya Sen: Development as Freedom, New York 1999.
[3] In diese Richtung argumentieren wirtschaftspolitisch Jagdish Bhagwati / Arvind Panagariya: Why Growth Matters: How Economic Growth in India Reduced Poverty and the Lessons for Other Developing Countries, New York 2013; und politikgeschichtlich Sumantra Bose: Transforming India: Challenges to the World's Largest Democracy, Cambridge, Mass. 2013.
[4] So Gurcharan Das: India Grows at Night: A Liberal Case for a Strong State, London 2012.
[5] Siehe G. Sampath: "Why Everyone Loves 'Good Governance'", auf http://www.thehindu.com/opinion/op-ed/comment-g-sampath-on-modi-government-why-everyone-loves-good-governance/article7389373.ece?homepage=true, (zuletzt überprüft am 01.11.2015).
Patrick Hesse