Hermann Haarmann / Christoph Hesse (Hgg.): Briefe an Bertolt Brecht im Exil (1933-1945), Berlin: De Gruyter 2014, 3 Bde., LIX + 2028 S., ISBN 978-3-11-019546-0, EUR 449,00
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Bertold Brecht war schon in der Weimarer Republik ein erfolgreicher und hoch umstrittener Dramatiker und Autor. Wie bei vielen anderen Schriftstellern und Intellektuellen wurde diese Karriere durch den Regierungsantritt der Nationalsozialisten jäh unterbrochen. Brecht musste, um der Lebensgefahr zu entgehen, Deutschland verlassen und auf unbestimmte Zeit im Exil leben. In der Fremde, mit ungewisser Perspektive, gewann der Kontakt zu anderen, zu Schicksalsgenossen und Gleichgesinnten, eine neue, ungleich größere Bedeutung als jemals zuvor. Briefe waren im Zeitalter vor E-Mails, SMS und WhatsApp die Form Kontakt zu halten. Den Flüchtlingen boten die vielen Briefe eine Art "Schutzraum" (XVI), dessen sie dringend bedurften.
Anders als die flüchtigen digitalen Kommunikationsformen hinterlassen die Briefe nachhaltig Spuren; sie sind zahlreich überliefert, zumal viele der Sender und Empfänger, durchdrungen von der Gewissheit eigener Bedeutung, diese sorgsam pflegten und archivierten. Diesem Umstand verdankt sich, dass eine große Edition aller Briefe, die Brecht während seines Exils von 1933 bis 1949 erhalten hat, überhaupt möglich und sinnvoll ist. Sie ergänzt bereits vorhandene Editionen der von Brecht verfassten Briefe.
Da die Herausgeber das Ziel verfolgt haben, alle überlieferten Briefe an Brecht in ihrer Edition zu versammeln, bietet diese ein nicht nur umfassendes, sondern vor allem auch sehr heterogenes Bild seiner Exilzeit im Spiegel von Briefen ab - von sehr banalen und wenig aussagekräftigen Geschäftsbriefen bis hin zu ausführlichen und mitunter berührenden Momentaufnahmen Gestrandeter im Exil. So ist die Lektüre durch ein Auf und Ab gekennzeichnet, Passagen, die dem Leser einige Geduld abverlangen, wechseln sich mit unverhofften Glücksmomenten und "Entdeckungen" ab.
Die Herausgeber haben sich entschieden, die Briefe streng chronologisch abzudrucken. Das hat den großen Vorteil, dass Entwicklungen nachvollzogen werden können und dass sichtbar wird, was Brecht zum jeweiligen Zeitpunkt unter anderem beschäftigte beziehungsweise was an ihn herangetragen wurde. Der Nachteil dieser Entscheidung liegt auf der Hand: Einzelne Briefwechsel sind so auseinandergerissen, Zusammenhänge müssen durch Querverweise im Kommentar hergestellt werden. Die Verweise jedoch lassen zu wünschen übrig, nennen sie doch weder Seitenzahl noch Fußnotennummer, sondern nur Absender und Datum.
Dennoch zeigt allein die Lektüre der Briefe aus den ersten Exil-Monaten schon nachdrücklich die Vorzüge einer chronologischen Anordnung. Zahlreiche Briefpartner Brechts suchten Halt und Orientierung in der radikal neuen Situation; eine fieberhafte Suche nach neuen Publikationsmöglichkeiten und damit der Sicherung der Lebensgrundlage begann. Auch die Unsicherheit sowie tatsächliche oder eingebildete Gefahren spiegeln sich indirekt in den Briefen, etwa wenn Deckadressen benutzt oder Namen verschleiert werden. So schreibt Bernhard von Brentano von "Hans B aus drüben" (77), wenn er Johannes R. Becher meint. Und es zeigt sich eindrücklich, wie rasend schnell für viele der Geldfluss aus Deutschland versiegte, da sich die dortigen Verlage umgehend auf die neuen Verhältnisse einstellten.
Diese gebündelte Dramatik des Exils jedoch leuchtet nur recht selten auf, beispielsweise in der Bemerkung Brentanos im September 1939: "6 Jahre sitze ich nun schon hier; manchmal denke ich, es wären 100!" (933) Auch ein paar Sätze in Briefen Lion Feuchtwangers nach seiner Entlassung aus einem französischen Internierungslager im Oktober 1939 werfen Schlaglichter auf Unsicherheiten, Gefahren und niedergedrückte Stimmungen.
Abgesehen von solchen seltenen Stellen sind es jedoch vor allem die vielen Leerstellen, die bezeichnend sind und durch die die Lektüre für Nicht-Brecht-Philologen oft enttäuschend ist. Wer etwa danach sucht, was Lion Feuchtwanger, Bernhard von Brentano, Wieland Herzfelde und viele andere mehr zu den großen historischen Ereignissen, die diese Zeit in Serie hervorbrachte, zu sagen hatten, läuft immer wieder ins Leere. Die Nürnberger Gesetze, der Novemberpogrom, die Judenverfolgung allgemein, aber auch der Kriegsbeginn oder der Überfall auf die Sowjetunion und - was am meisten überrascht - auch der Hitler-Stalin-Pakt - all das ist in den vielen Briefen praktisch kein Thema; ebenso wenig die immer bedrohlichere deutsche Expansion, die sich fundamental auf die Lage vieler Geflüchteter auswirkte. Die große Ausnahme sind Briefe aus dem Winter 1940/41, in denen Feuchtwanger und andere eindringlich an Brecht appellieren, Finnland endlich zu verlassen und sich auf den Weg in die Vereinigten Staaten zu machen, um endlich in wirklicher Sicherheit zu sein. Stattdessen liest man viel von Kollegentratsch, Bauchpinseleien, Empfindlichkeiten und Eifersüchteleien, von verstrichenen Fristen und - das ist ein roter Faden - von Ärger, Unverständnis und Enttäuschung angesichts ausbleibender Antworten Brechts.
So bleibt am Ende ein zwiespältiger Eindruck: Die Herausgeber haben, allen Widrigkeiten befristeter und digitalfixierter Forschungsförderung zum Trotz, ohne Frage eine große, sorgfältig kommentierte und hervorragend eingeleitete Edition vorgelegt, die Brecht-Forschern wertvolle Dienste leisten kann und wird. Wer überdies Einblicke in Publikationsmöglichkeiten und -prozesse im Exil sowie in die Literatur- und Theaterlandschaft der unmittelbaren Nachkriegszeit sucht, wird gleichfalls immer wieder fündig. Über den engeren Kreis von Spezialisten hinaus jedoch bieten die Bände einer breiteren Leserschaft weniger - aber das von einer solchen Edition zu erwarten, hieße wohl falsche Ansprüche anzulegen, zumal bereits Preis und Erscheinungsort deutlich machen, dass dies nicht das Anliegen war und auch nicht sein konnte.
Markus Roth