Daniel Brewing: Im Schatten von Auschwitz. Deutsche Massaker an polnischen Zivilisten 1939-1945 (= Veröffentlichungen der Forschungsstelle Ludwigsburg der Universität Stuttgart; Bd. 29), Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2016, 363 S., ISBN 978-3-534-26788-0, EUR 79,95
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Nachdem in den letzten rund zwanzig Jahren eine Regionalstudie nach der anderen den Holocaust in Polen immer mehr ausgeleuchtet hat, war im Westen eine multiperspektivische Studie über die Verbrechen und insbesondere über die Massenmorde an Polen unter deutscher Besatzung überfällig. In der Form, in der Daniel Brewing von der RWTH Aachen dies in seinem Werk macht, war auch in Polen hierüber noch nicht zu lesen, obwohl dort das Thema schon seit Jahrzehnten im Blick war.
Gleich zu Beginn seines verdienstvollen Buches macht Brewing eindringlich auf das aufmerksam, was in der Öffentlichkeit (aber auch in der Fachwissenschaft) oft übersehen wird: Es handelt sich, auch über siebzig Jahre nach Kriegsende, um ein noch nicht abgeschlossenes Kapitel der Geschichte. Die deutschen Verbrechen an polnischen Zivilisten sind bis heute aktuell - auch und gerade jenseits manch schriller Misstöne im deutsch-polnischen Verhältnis der letzten Jahre. Noch immer leben Menschen, die an den Folgen der Massenverbrechen der deutschen Besatzer leiden, die deren Spuren tragen.
Brewing geht es in seiner Studie um weit mehr als eine bloß positivistische Darstellung deutscher Massaker. Vielmehr geht er anhand ausgewählter Fallbeispiele auf solider theoretischer Grundlage einer Reihe von Kernfragen nach, die das Thema gründlich ausleuchten: Welche Umstände und Konstellationen haben den Massakern Vorschub geleistet? Wie und wann haben sich bestimmte Akteure in bestimmten Situationen zu Massakern entschieden? Welche Legitimierungsmuster gab es? Wie sah die Praxis der Massaker aus? Hat sie andere Massenverbrechen beeinflusst und, wenn ja, wie? Diesen und anderen Fragen geht er in drei großen Abschnitten nach.
Im ersten Teil geht es Brewing um das "Setting der Massaker", um Ziele und Praxis deutscher Besatzungspolitik als Rahmen von Massenverbrechen, die zudem - wie er sehr plausibel machen kann - von Feindbildern und Stereotypen der langen deutsch-polnischen Beziehungsgeschichte vor 1939 erheblich beeinflusst wurden. Die antipolnischen Feindbilder, in den Kämpfen der Freikorps nach dem Ersten Weltkrieg in bestimmten Milieus untrennbar mit brutaler Gewalt verknüpft, bildeten in Verknüpfung mit einer aufgebauschten Propaganda über volksdeutsche Opfer polnischer Bestialität im Sommer und Herbst 1939 einen wichtigen Nährboden für die Brutalisierung deutscher Besatzungspraxis in Polen. Daher waren die Jahre von 1918 bis 1939 eben weit mehr als nur eine lose mit den späteren Massakern zusammenhängende Vorgeschichte, die pflichtschuldig abgearbeitet werden muss. Sie waren, das hebt Brewing stark hervor, integraler Bestandteil der mörderischen Praxis nach 1939, entstand in dieser Zeit doch die Voraussetzung für die Brutalisierung und deren Legitimierung. Damit ist aber kein starrer Rahmen für die Analyse von Massakern an der polnischen Zivilbevölkerung abgesteckt, vielmehr veränderte sich das Setting mit den sich wandelnden Zielen deutscher Besatzungspolitik und durch die Erfahrungen mit vorangegangenen Massakern.
Der "Logik der Massaker" ist der zweite Teil des Buches gewidmet. Ideologie und Praxis schufen im besetzten Polen ein Klima permanenter Bedrohung und Unsicherheit, dem man nur mit Gewalt meinte begegnen zu können. Hier macht Brewing mehrere Radikalisierungsfaktoren aus, die für eine zunehmende Eskalation der Massaker verantwortlich sind. Zum einen führte das Kompetenzgerangel zwischen SS und Polizei, Zivilverwaltung und Wehrmacht zu Brutalisierungsschüben, da Himmlers Apparat mit einer Intensivierung der Gewalt den eigenen Anspruch auf Zuständigkeit und die eigene Kompetenz nachzuweisen suchte. Zum anderen führte dies zusammen mit dem letztlichen Scheitern eines jeden Massakers zu einer Entgrenzung der Gewalt in den weiteren Schritten der Besatzer: Nach der fatalen Binnenlogik des SS- und Polizeiapparats konnte die Schlussfolgerung aus der ausbleibenden Befriedung einer Region nach einem Massaker nur eine Steigerung der Gewalt sein. Die so in Gang gesetzte Spirale der Gewalt führte nie zu "Lösungen", sondern zu einer Verschärfung der "Problemlage" aus deutscher Sicht: Der Zulauf zur Widerstandsbewegung und deren Aktivitäten nahmen erheblich zu. Dies zeigt Brewing anschaulich anhand klug ausgewählter Fallbeispiele aus verschiedenen für die deutsche Besatzungspolitik wichtigen Zeiträumen angefangen mit der im neuen Licht betrachteten Bekämpfung des Widerstands in Zentralpolen. Schlüssig kann er hier zeigen, wie Kompetenzkonflikte zwischen Wehrmacht sowie SS und Polizei, aber auch erhebliche Entscheidungsspielräume vor Ort zu einer Radikalisierung entscheidend beitrugen. Die Methoden, die 1940 im besetzten Polen angewandt wurden, prägten nicht nur das Vorgehen dort in den folgenden Jahren, sondern die Partisanenbekämpfung im gesamten deutsch besetzten Europa.
Im Weiteren untersucht Brewing Massaker an der polnischen Zivilbevölkerung 1942, das Kleinklein des Partisanenkampfes, seine verheerenden Folgen und die ihm zugrundeliegenden Sicherheitsillusionen. Wie in manch anderen Bereichen auch schuf die radikale Praxis den Nährboden für die ihr zugrunde liegende "Problemlage": Die Gewalt entfaltete weniger abschreckende Wirkung, da sie oft willkürlich unabhängig vom Verhalten der Einzelnen über die Bevölkerung hereinbrach, sondern verstärkte vielmehr die Basis des Widerstands - sei es durch direkten Zulauf oder durch Stärkung des Rückhalts in der Bevölkerung. Schließlich hieß es in Einsatzbefehlen: "Jeder der Einheimischen ist als Helfer oder Begünstigter verdächtig, soweit seine Parteinahme für uns nicht einwandfrei feststeht" (204). Brewing beschränkt sich in den exemplarischen Detailstudien nicht auf eine Gegenüberstellung von polnischem Widerstand auf der einen und deutschen Sicherheitskräften auf der anderen Seite, sondern zieht als durchaus wichtigen Faktor der Analyse auch Verhalten und Handlungsoptionen der Bevölkerung immer mit ein, so dass er ein multiperspektivisches, breit kontextualisiertes Bild von deutscher Besatzungspolitik zeichnet und so ihren Kern freilegt. An jedem einzelnen der insgesamt 2078 Tage der deutschen Gewaltherrschaft in Polen verloren dort über 2000 Menschen ihr Leben, jeweils rund 500 von ihnen waren nichtjüdische Polen.
Angesichts dieser Zahlen ist die juristische Behandlung dieser Massenverbrechen nach 1945, denen der abschließende kurze dritte Teil des Buches gewidmet ist, geradezu beschämend. Wer nicht in den ersten Nachkriegsjahren an Polen ausgeliefert wurde, blieb oft unbehelligt beziehungsweise wurde nicht verurteilt. Lange Jahre blieben die Justizbehörden untätig, als sie mehr Aktivität entfalteten, war es vielfach schon zu spät, da sich der Tatbeitrag Einzelner mangels Zeugen und Beweismaterials nicht zweifelsfrei nachweisen ließ oder weil man die Verbrechen als Totschlag als verjährt ansah.
Daniel Brewing schließt eine Lücke der Forschung zur deutschen Besatzungsherrschaft in Polen und bietet eine hervorragende Grundlage für weitere Untersuchungen. Mit seiner umsichtig argumentierenden, gleichermaßen theoretisch fundierten wie empirisch gesättigten exzellenten Studie setzt er Maßstäbe.
Markus Roth