Katarzyna Person / Johannes-Dieter Steinert: Przemysłowa Concentration Camp. The Camp, the Children, the Trials (= The Holocaust and its Contexts), Cham: Palgrave Macmillan 2022, vii + 251 S., ISBN 978-3-031-13947-5, EUR 117,69
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
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Katarzyna Person: Warsaw Ghetto police: the Jewish Order Service during the Nazi occupation. Translated by Zygmunt Nowak-Soliński, Ithaca / London: Cornell University Press 2021
Mit wenigen Ausnahmen ist über die NS-Lager im deutsch besetzten Europa noch immer wenig bekannt. Die Vernichtungslager sowie manche Zwangsarbeitslager, die in der Geschichte des Holocaust eine Rolle gespielt haben, sind inzwischen in Teilen erforscht; für andere Lagertypen jedoch gilt dies nicht. Die Monografie von Katarzyna Person vom Jüdischen Historischen Institut in Warschau und Johannes-Dieter Steinert von der University of Wolverhampton schafft hier ein wenig Abhilfe, indem sie sich einem einzigartigen Lager widmet, dem sogenannten Polen-Jugendverwahrlager Litzmannstadt.
Das Lager wurde am 1. Dezember 1942 innerhalb des Gettogebiets in Litzmannstadt, wie die deutschen Besatzer Łódź ab April 1940 nannten, errichtet. Vorgesehen war es für Kinder und Jugendliche unter 16 Jahren, die straffällig geworden waren, deren Eltern im Widerstand waren oder sich der Germanisierung verweigert hatten, sowie Kinder, die in andere Weise auffällig geworden waren und von der Norm abwichen. Meist kamen sie aus zerrütteten Familienverhältnissen und hatten bereits Aufenthalte in Erziehungs- oder Strafanstalten hinter sich. Dort sollten die neuen Lagerkapazitäten Platz für deutsche Kinder schaffen. Das Lager war somit Teil der rassistischen Kriminalpräventionspolitik der Nationalsozialisten und Ausdruck ihrer radikalen Zuspitzung.
Die genaue Zahl der gefangenen Kinder im Jugendverwahrlager, das unter anderem an der Przemysłowa-Straße lag, worauf sich der englische Lagername im Buchtitel bezieht, ist nicht bekannt. Die Verfasser bestätigen ältere seriöse Schätzungen von circa 1.500 - 2.000 Kindern und Jugendlichen, die gesondert nach Geschlecht untergebracht wurden. In manchen polnischen Publikationen früherer Jahrzehnte wurde die Zahl bis zu zehnmal höher angesetzt. Die Zahl der Toten bleibt auch nach den akribischen Forschungen des Autorenduos im Dunkeln. Über die 71 offiziellen Todesfälle hinaus gehen sie von mehreren Hundert Kindern und Jugendlichen aus, die an Hunger und Krankheiten im Lager gestorben sind.
Für die mehrheitlich um 15 Jahre alten Kinder war das Lager eine weitere, freilich extreme Etappe in einer Kette von negativen und traumatischen Erfahrungen, angefangen von oft desolaten Familienverhältnissen bis hin zu Aufenthalten in anderen Einrichtungen. Trotz vielfältiger negativer Vorerfahrungen, die auch an Gewalterlebnissen nicht arm waren, war die Aufnahme ins Lager für die Kinder und Jugendlichen eine Schockerfahrung, die geprägt war vom Verlust ihrer Besitztümer, dem Erleben von Gewalt, von Angst und Ungewissheit über ihr weiteres Schicksal und anderem mehr. Eine zusätzliche Belastung stellten die miserablen Lebensbedingungen im Lager dar: Hunger, kein fließendes Wasser, Dreck, Läuse, Krankheiten und die allgegenwärtigen Grausamkeiten des Lagerpersonals waren an der Tagesordnung. Die besondere Lage innerhalb des Gettos verhinderte zudem, dass durch Schmuggel die Situation ein wenig hätte gebessert werden können.
Diese ohnehin schon gerade für Heranwachsende fatalen Bedingungen wurden zusätzlich durch die zu leistende Zwangsarbeit erheblich erschwert. Sie mussten vor allem Munitionstaschen, Strohschuhe und Ähnliches für die Wehrmacht produzieren; Mädchen arbeiteten zudem auch in der Wäscherei, wo sie stundenlang mit nackten Füßen in kaltem Wasser stehen mussten. Die Arbeit bot keine Fluchtmöglichkeit vor Gewalt, diese prägte auch den Arbeitsalltag und war bevorzugtes Strafmittel neben dem Essensentzug.
In Polen gab es nach dem Krieg einige Prozesse gegen die Täterinnen und Täter des Jugendverwahrlagers, in denen einige zum Tode oder zu Haftstrafen verurteilt wurden. In Deutschland hingegen kamen die Täter straffrei davon, zu Prozessen im Zusammenhang mit den Verbrechen gegen die Kinder und Jugendlichen im Lager ist es nicht gekommen. Aber auch in Polen war ihr Leid lange vergessen. In den Verfahren in Polen sagten viele ehemalige Lagerhäftlinge aus, stießen aber auf eine Mauer des Misstrauens, galten sie doch als "asozial" und wenig glaubwürdig, zumal viele wegen der Traumatisierungen nicht zu kohärenten Aussagen in der Lage waren.
Es ist das große Verdienst der Verfasser, die berührende Geschichte dieser im Westen weitgehend unbekannten Opfergruppe und ihres zentralen Leidensortes auf breiter Quellengrundlage rekonstruiert zu haben. Sensibel und umsichtig verschaffen sie den Stimmen der verfolgten Kinder und Jugendlichen Gehör. In der Geschichte dieses einzigartigen Lagers, so resümieren Person und Steinert, findet man wie unter einem Brennglas gebündelt die Zuspitzung der rassistischen Ideologie sowie der brutalen Praxis der deutschen Besatzungspolitik und ihrer rücksichtslosen Ausbeutung aller materiellen sowie menschlichen Ressourcen für die Kriegswirtschaft. Mit ihrer quellengesättigten, gut lesbaren Studie legen sie zudem den Kern einer entgrenzten Kriminalpolizei und rassistischen Kriminalprävention frei, die in der Bundesrepublik - zum Teil bis heute - über lange Zeit unkritisch gesehen wurde.
Markus Roth