Stephen Kelly / Ryan Perry (Hgg.): Devotional Culture in Late Medieval England and Europe. Diverse Imaginations of Christ's Life (= Medieval Church Studies; Vol. 31), Turnhout: Brepols 2014, XVII + 660 S., 40 s/w-Abb., 9 Tabellen, ISBN 978-2-503-54935-4, EUR 130,00
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Der von Stephen Kelly und Ryan Perry herausgegebene Band basiert auf einer im Juni 2010 an der Queen's University in Belfast abgehaltenen Tagung des Forschungsprojekts "Geographies of Orthodoxy". Darstellungen des Lebens Jesu in Bild und vor allem Text als Ausdruck der spätmittelalterlichen Andachtskultur in England und Europa sind das Thema der 21 Beiträge.
Im Nachhinein ist das späte Mittelalter häufig im Schatten der Reformation betrachtet und folglich die Heterogenität der Religion und Kultur dieser Zeit negiert worden. Der vorliegende Band, so die Herausgeber, wolle der Forderung des Historikers John Van Engen entsprechen: "We must try to conceive this period from within rather than as a hinge in larger narrative." [1]
Die Meditationes Vitae Christi (MVC), einer der einflussreichsten religiösen Texte des späten Mittelalters, sind ein zentraler Bezugspunkt des Sammelbandes. Im ersten Beitrag (17-104) gelangen Peter Tóth und Dávid Falvay zu grundlegend neuen Erkenntnissen hinsichtlich der Datierung und der Autorschaft der MVC. Sie gehen bei ihrer Untersuchung von zwei Handschriften des Extendit manum und des Angeli pacis aus, die einen Liber de vita Christi eines als Jacobus bzw. Jacobus, frater domini bezeichneten Autors zitieren. Die beiden Sermones werden dem Augustiner Michael de Massa zugeschrieben und folglich zwischen 1320 und 1337 datiert. Den von ihm angeführten Liber de vita Christi identifizieren die Autoren als MVC, denn eine Gruppe von Handschriften italienischer Provenienz der MVC wird entsprechend betitelt. Die Datierung der MVC zwischen 1338 und 1360 durch Sarah McNamer [2], wodurch sie als Quelle von Michael de Massa ausscheiden würden, und die Zuschreibung an Johannes de Caulibus wurden von der Forschung bislang weitgehend unwidersprochen akzeptiert. Die Autoren widerlegen jedoch McNamers Hauptargument für die Datierung, die Zuschreibung des in den MVC häufig zitierten Book of Revelations of the Virgin an Elisabeth von Töss († 1336/37). Auch die seit dem 18. Jahrhundert weitgehend akzeptierte Zuschreibung der MVC an Johannes de Caulibus wird grundlegend in Frage gestellt. Auf Grundlage einer Handschrift mit einem entsprechenden Vermerk aus dem 17. Jahrhundert identifizieren sie den Franziskaner Jacobus de Sancto Geminiano, Anführer einer spirituellen Revolte in der Toskana im Jahr 1312, als Autor der MVC.
Fast alle Beiträge widmen sich christologischen Texten des späten Mittelalters aus dem englischen Kulturkreis, die vielfach in der Tradition der MVC stehen. Der Fokus der Analysen liegt auf den Funktionen dieser Texte, abseits der bereits gut erforschten affektiven Vermittlung des Passionsgeschehens. Von besonderem Interesse ist dabei, auf welche Weise sie inhaltlich, stilistisch und materiell für verschiedene Zielgruppen - Männer und Frauen, Kleriker und Laien - nutzbar gemacht wurden.
Denise L. Despres befasst sich in ihrem Beitrag (107-126) mit der Bedeutung der Adoleszenz für die Entwicklung der spirituellen Reife in Aelred of Rievaulx' De institutione inclusarum und De Iesu puero duodenni. Während ersteres Werk an Aelreds ältere Schwester adressiert ist, richtet sich letzteres an einen Mönch namens Ivo. Despres weist nach, wie Aelred Geschlecht und Alter der Adressaten in seinen Meditationen zum Zwecke der imitatio Christi Rechnung trägt.
Barbara Zimbalist (511-531) zeigt auf, wie im Life of the Virgin Mary and the Christ - teilweise eine Übersetzung der MVC - die affektive Schilderung des Passionsgeschehens zugunsten ausgeprägter Rede von Schlüsselfiguren in den Hintergrund rückt und so zum Zwecke der Instruktion eines Laienpublikums genutzt werden konnte.
Kathryn Kerby-Fulton behandelt in ihrem Beitrag (573-591) ein Thema, durch das sich das 'dunkle' Mittelalter als durchaus fortschrittlich erweist: Texte von und für Frauen entstanden im 15. Jahrhundert in bis dato ungekannter Zahl. Kerby-Fulton revidiert exemplarisch die übliche Wahrnehmung des kurzen Textes der Revelations of Love der Juliana von Norwich als affektive Vermittlung der Passion und argumentiert anhand von Kommentaren in einer Handschrift, die frühesten Leser hätten ihn als Destillat einer ernstzunehmenden Theologie verstanden.
Marlene Villalobos Hennessy (243-266) zeigt am Beispiel von The Revelation of the Hundred Pater Nosters, welches die sieben Stationen des Blutvergießens Jesu behandelt, wie auch Laien durch Passionstexte dazu angehalten wurden, die Grenze zwischen der Visualisierung des Passionsgeschehens und der körperlichen Mimesis zu überschreiten. Das Buch als materielles Objekt bringe sich dadurch selbst zum Verschwinden (264 ff.).
Weitere Beiträge widmen sich The Prickynge of Love (Sarah Macmillan), Margery Kempes Devoute Ymaginacion (Elisabeth Scarborough), der Storie of Asneth (Heather A. Reid), dem Mirror for Devout People (Paul J. Patterson), Nicholas Loves Mirror of the Blessed Life of Jesus (Katie Ann-Marie Bugyis / Valerie Allen) und der Pepysian Meditation on Christ's Passion (Mayumi Taguchi). Sarah James behandelt eine Kompilation, die unter anderem eine mittelenglische Adaption von Heinrich Seuses Horologium Sapientiae enthält. Maureen Boulton stellt durch die Beschäftigung mit französischen Texten eine Ausnahme innerhalb des Sammelbandes dar. Pamela M. King befasst sich mit geistlichen Spielen des frühen 15. Jahrhunderts. Daniel McCann untersucht den auf Augustinus zurückgehenden Tropus des Christus medicus.
Vier Beiträge behandeln auch oder ausschließlich visuelle Zeugnisse: Eleanor McCullough beleuchtet eine Handschrift der Hours of the Cross, die sogenannten Pavement Hours, in ihrem konkreten örtlichen Kontext der Gemeindekirche All Saints' Pavement in York, wo sie unter anderem in Verbindung mit den Glasfenstern, welche die Passion und die arma Christi zeigen, genutzt wurde.
Mary Dzon (147-241) befasst sich mit Legenden vom guten Dieb, der mit Christus gekreuzigt wurde, von ihrem Ursprung im Osten im 2. Jahrhundert bis zu ihrer Adaption von englischen Autoren wie Odo of Cheriton und Aelred of Rievaulx, die sie für ein englisches Laienpublikum anpassten. Dzon veranschaulicht, wie die Legenden dazu dienten, theologisch zu rechtfertigen, warum ein Sünder mit Jesus ins Paradies eingehen konnte.
Ab Mitte des 13. Jahrhunderts gewannen in England Passionsdarstellungen in Stundenbüchern und an den Wänden von Gemeindekirchen sprunghaft an Bedeutung. Rachel Canty und David Griffith stellen in ihrem Beitrag (267-289) anhand von Beispielen aus dem weiteren Umland von Oxford grundlegende Überlegungen zur Funktion dieser Passionsbilder an, die nicht (nur) der Vermittlung der Heilsgeschichte dienen, sondern den Betrachter vielmehr zur persönlichen, emotionalen Anteilnahme einladen. Als Auftragswerke privater Stifter befriedigen die Bilder neue spirituelle Bedürfnisse von Laien und sind wesentliche Instrumente für die Meditation im privaten Raum sowie die kollektive Andacht im (öffentlichen) Kirchenraum.
Sheila Sweetinburgh (291-314) befasst sich mit der Funktion von Bildern zum Leben und der Passion Jesu, nämlich um 1306 entstandenen Szenen auf einer oktogonalen Säule in der Gemeindekirche Saint Mary in Faversham und ihrem Entstehungs- sowie Rezeptionskontext.
Die Beiträge des vorliegenden Bandes sind quellennah und ziehen häufig auch wenig bekannte Handschriften und bildliche Darstellungen heran. Durch das Register, das auch einzelne Handschriften verzeichnet, lässt sich die monumentale Aufsatzsammlung für die künftige Forschung gut nutzen.
Insbesondere geht es in den Beiträgen anhand verschiedener Beispiele darum, wie Andachtspraktiken monastischer und klerikaler Kreise in diejenigen von Laien Eingang fanden. Dieser Prozess ließe sich sicher auch an vielen mitteleuropäischen Beispielen nachweisen. Durch neue Perspektiven auf die kulturellen Zeugnisse und ihre Funktionen trägt der Band dazu bei, die Frömmigkeit dieser Zeit besser zu begreifen und sie nicht vornehmlich als eine Phase des Übergangs wahrzunehmen.
Anmerkungen:
[1] John Van Engen: Multiple Options: The World of the Fifteenth-Century Church, in: Church History 77.2 (2008), 257-284, hier 260.
[2] Sarah McNamer: Further Evidence for the Date of the Pseudo-Bonventuran Meditationes vitae Christi, in: Franciscan Studies 50 (1990), 235-262.
Daria Dittmeyer