Patrizia Carmassi / Christian Heitzmann: Der Liber Floridus in Wolfenbüttel. Eine Prachthandschrift über Himmel und Erde, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2014, 288 S., 32 Farbabb., ISBN 978-3-534-25798-0, EUR 129,90
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Zwischen 1112 und 1121 verfasste Lambert, Kanoniker an der Stiftskirche Unserer Lieben Frau von Saint-Omer, eine Enzyklopädie, der er den Titel Liber floridus gab: das blühende Buch. Lambert ist sonst nicht als Autor in Erscheinung getreten und das Wenige, das über ihn bekannt ist, verdankt sich seinen eigenen Angaben im Liber floridus. Der Liber floridus umfasst neben theologischen, kosmologischen und naturphilosophischen auch historische Themenbereiche, wobei die Geschichte Flanderns und des Bistums Thérouanne eine wichtige Rolle spielen. Lamberts Werk zeichnet sich vor allem durch den hohen Stellenwert aus, welcher der visuellen Vermittlung des Wissens zugemessen wird: Texte, Bilder, Karten und Diagramme werden in ihm zur Synthese gebracht.
Der - wenn auch unvollständig - erhaltene Autograf des Liber floridus (Gent, Universitätsbibliothek, Ms. 92) liefert wichtige Einblicke in die Arbeitsweise Lamberts als Kompilator und Autor. Unter den zahlreichen Abschriften, die sein Werk vom 12. bis zum frühen 16. Jahrhundert erfahren hat, kommt derjenigen in Wolfenbüttel (Herzog August Bibliothek, Cod. Guelf. 1 Gud. lat.) - dem Gegenstand der vorliegenden Publikation - besondere Bedeutung zu, denn sie bildet die früheste und getreueste. Zudem finden sich im Wolfenbütteler Codex auch Teile, die im Genter Autograf verloren sind, wie der umfangreiche Bildzyklus zur Apokalypse und die Weltkarte. Allerdings fehlt auch in der Wolfenbütteler Handschrift am Ende etwa ein Drittel des ursprünglichen Bestands.
In der Publikation von Christian Heitzmann und Patrizia Carmassi erfährt die Wolfenbütteler Abschrift des Liber floridus erstmals eine umfassende Würdigung. In schlüssiger Gliederung werden zunächst knapp die mittelalterlichen Enzyklopädien als Gattung beleuchtet, darauf folgt ein Kapitel über Lambert und sein Werk. Dem schließen sich eine Einordnung der Wolfenbütteler Handschrift in den Überlieferungskontext, Ausführungen zu ihrer mutmaßlichen frühen Verwendung und Provenienz sowie Überlegungen zu den Quellen und der Kompilationsweise Lamberts an. Der folgende Abschnitt ist Beschreibung und Erläuterung der einzelnen Teile gewidmet. Daran schließt sich der Bildteil, in welchem die gesamte Handschrift auf Farbtafeln reproduziert ist. Über den Anmerkungsapparat und ein umfängliches Literaturverzeichnis am Ende wird der Leser auf die wichtigen Untersuchungen zum Liber floridus und weiterführende Literatur hingewiesen. [1]
Der Wolfenbütteler Codex stammt aus der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts und wurde nach Ausweis des stilistischen und paläografischen Befunds in der gleichen Region wie der Autograf Lamberts geschrieben, allerdings wohl nicht innerhalb des Gebiets der Diözese Thérouanne. In die herzogliche Bibliothek zu Wolfenbüttel gelangte der Codex 1710 aus der Auktion der Bibliothek des Gelehrten Marquard Gude (1635-1689) (12-19). Durch Auswertung der Archivalien und Kataloge der Herzog August Bibliothek kann Patrizia Carmassi zeigen, dass der Codex zum Zeitpunkt der Erwerbung noch vollständig war. Erst später wurden am Ende des Buchblocks etwa neun Lagen herausgeschnitten. Gestützt auf eine akribische Quellensichtung und genaue kodikologische Untersuchung zeichnet Carmassi mehrere mögliche Wege des Wolfenbütteler Codex von seinem Herstellungsort in Belgien oder Nordfrankreich in den Besitz Gudes nach. Die stärksten Argumente ergeben sich dabei für eine längere Aufbewahrung der Handschrift in Reims, denn im frühen 14. Jahrhundert wurde der Reimser Krönungsordo auf den Folia 72v und 73r eingetragen.
Der Liber floridus ist ein gelehrtes Kompilat verschiedenster Quellen. Die Texte, die Lambert für sein Werk verwendete, konnten zwar bereits durch Albert Derolez, dem sich maßgebliche Publikationen zum Liber floridus verdanken, weitgehend identifiziert werden. [2] Gerade die nähere Untersuchung der patristischen Quellen führt jedoch zu einer Modifikation der bisherigen Forschungsergebnisse (19-27). Heitzmann und Carmassi zeigen anhand ausgewählter Beispiele eindrücklich, dass vor allem den Bildern und Diagrammen in Lamberts Konzept der Wissensvermittlung eine wichtige epistemische Rolle zugewiesen wird, indem sie die kosmische Ordnung für den Leser / Betrachter evident werden lassen. In Hinblick auf die Struktur von Lamberts Werk ist zentral, dass hier die in früheren Enzyklopädien übliche Ordnung des Wissens modifiziert wurde, indem naturphilosophische und vor allem historische Wissensbereiche einbezogen sind. Dabei wird vor allem deutlich, dass Lambert aus der Perspektive des frühen 12. Jahrhunderts heraus schreibt, als die Ordnung der Welt gerade erst durch die jüngsten Ereignisse - Kirchenreform und Auseinandersetzung zwischen Kaiser- und Papsttum - in ihren Grundfesten erschüttert worden war. Eine wichtige Rolle spielen entsprechend die politische Geschichte und die zeitgeschichtlichen Ereignisse, insbesondere die Kreuzzüge. Die Ausführungen von Carmassi und Heitzmann zeigen nicht zuletzt, dass Lamberts Werk - anders, als dies die ältere Forschung oft gesehen hat - eine durchaus durchdachte Struktur und Anordnung von Text, Bild und Diagramm zugrunde liegen.
Die besondere Herausforderung in der Beschäftigung mit dem Liber floridus Lamberts von Saint-Omer besteht nicht allein im Umfang des Werks und den vielfältigen Fragen, die das darin zum Ausdruck gebrachte Weltbild aufwirft. Die Schwierigkeit liegt vor allem in der außerordentlich komplexen Überlieferungssituation begründet, denn die verschiedenen Abschriften des Liber floridus unterscheiden sich alle von Lamberts Autograf, aber auch untereinander gravierend. Die späteren Kopisten haben den Liber floridus nämlich nicht einfach abgeschrieben, sondern das Werk in Auswahl, Disposition und in der Ausstattung mit Bildern und Diagrammen ihrer je eigenen Interessenlage angepasst. Die große Bedeutung, die der Wolfenbütteler Handschrift zukommt, hätte es wünschenswert erscheinen lassen, ihr Verhältnis zum Genter Autograf etwas eingehender zu charakterisieren. Nicht immer wird im ersten Teil der Publikation klar, wo grundlegende Feststellungen in Bezug auf Lamberts Werk getroffen werden, und wo speziell von der Wolfenbütteler Handschrift die Rede ist.
Der zweite, umfangreichere Teil der Publikation (Kap. 6, 27-54) bietet dann eine eingehende Beschreibung der Wolfenbütteler Abschrift des Liber floridus. Im anschließenden Tafelteil ist der Wolfenbütteler Codex vollständig in hervorragender Abbildungsqualität und annähernd in Originalgröße reproduziert. Dabei wurde der Disposition der Seiten in der Handschrift auch in der Publikation dadurch entsprochen, dass Doppelseiten stets gegenüberliegend abgebildet sind. So vermittelt die Buchpublikation einen viel treffenderen Eindruck von der Handschrift als das Digitalisat. [3] Dies macht die Detailabbildungen im Text allerdings weitgehend redundant - man hätte sich stattdessen gewünscht, dass die Wolfenbütteler Handschrift durch eine größere Zahl von Vergleichsabbildungen besser kontextualisiert und in die Überlieferung eingeordnet wird. In der gesamten Publikation finden sich nur fünf Abbildungen aus anderen Handschriften, darunter drei aus dem Genter Autograf. Bedauerlicherweise unterbleibt deshalb eine Einordnung des Werks in die visuelle Vorstellungswelt seiner Zeit ebenso wie eine kunsthistorische Einordnung des Wolfenbütteler Codex. Dies ist freilich nicht zuletzt der Adressierung des Buchs an ein breiteres Publikum geschuldet. Ebenso wenig den Autoren anzulasten ist das wahllose Einstreuen von Abbildungen, die wie aus der Handschrift herausgeschnitten wirken und teilweise entfärbt der Hintergrundfarbe angeglichen sind - ein unangemessenes Verfahren, das die Illustrationen mit ihren komplexen Implikationen zu bloßem Beiwerk degradiert.
Insgesamt ist festzuhalten, dass die Publikation von Christian Heitzmann und Patrizia Carmassi zur Wolfenbütteler Abschrift des Liber floridus nicht nur eines der zentralen Werke der hochmittelalterlichen Buchmalerei präsentiert, sondern gleichzeitig ein Werk, das für die Wissenskultur des 12. Jahrhunderts in ganz besonderer Weise aufschlussreich ist. Mit der umfassenden Vorstellung des neben dem Genter Autograf wichtigsten Überlieferungszeugen von Lamberts Werk ist für die weitere kunsthistorische Beschäftigung mit dem Liber floridus eine wichtige Grundlage geschaffen.
Anmerkungen:
[1] Zu ergänzen wäre an Publikationen zum Liber floridus, die nach Erscheinen der vorliegenden Publikation von Patrizia Carmassi und Christian Heitzmann veröffentlicht wurden: Jean-Claude Schmitt: Qu'est-ce qu'un diagramme? A propos du Liber Floridus de Lambert de Saint-Omer (ca. 1120), in: Diagramm und Text. Diagrammatische Strukturen und die Dynamisierung von Wissen und Erfahrung, Überstorfer Kolloquium 2012, hgg. v. Eckart Conrad Lutz / Vera Jerjen / Christine Putzo, Wiesbaden 2014, 79-94; Hanna Vorholt: Wissenstransfer und Erkenntnisprozesse in einer enyzklopädischen Sammelhandschrift aus dem Umfeld der Universität Leuven, in: ebd., 95-121; Jay Rubenstein: Heavenly and earthly Jerusalem: the view from twelfth-century Flanders, in: Visual constructs of JerusalemVisual constructs of Jerusalem (= Cultural encounters in late antiquity and the Middle Ages; Bd. 18), ed. by Bianca Kühnel / Galit Noga-Banai / Hanna Vorholt, Turnhout 2014, 265-276.
[2] Albert Derolez (ed.): Liber Floridus colloquium, Gent 1973; und vor allem: Albert Derolez: The autograph manuscript of the Liber Floridus: A Key to the encyclopaedia of Lambert of Saint-Omer, Turnhout 1998. Unlängst erschien zudem: Albert Derolez: The making and meaning of the Liber Floridus: a study of the original manuscript, Ghent, University Library, MS 92 (= Studies in medieval and early renaissance art history; Bd. 76), London 2015.
[3] http://diglib.hab.de/mss/1-gud-lat/start.htm [15.2.2016].
Andrea Worm