Daniel Göske (Hg.): Carl Schurz. Lebenserinnerungen. Mit einem Essay von Uwe Timm, Göttingen: Wallstein 2015, 2 Bde; XXXIII + 1042 S., ISBN 978-3-8353-1582-2, EUR 39,00
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Die Lebenserinnerungen von Carl Schurz, erstmals 1906/07 publiziert und sowohl in den 1950er als auch in den 1980er Jahren in Teilen erneut gedruckt, sind keine Neu-, sondern eine Wiederentdeckung. Insofern bedarf die von dem Kasseler Amerikanisten Daniel Göske als Herausgeber verantwortete Publikation einer Rechtfertigung. Diese besteht zum einen darin, die Autobiographie des politisch prominentesten deutschen Amerikaemigranten des 19. Jahrhunderts einer breiteren Öffentlichkeit zu erschließen: Hierfür ist dem Vorhaben Erfolg zu wünschen, der sich mit und nach dem engagierten Plädoyer Dirk Kurbjuweits in einem Spiegelartikel (14/2016) für eine stärkere Verankerung der "Forty-Eighters" in der deutschen Erinnerungskultur anzubahnen scheint. Ein anderer Vorzug wäre es, eine verbesserte Fassung des Schurz-Textes zur Verfügung zu stellen. Dies leistet die Publikation indes nur teilweise, da zwar im Gegensatz zu den älteren Neuausgaben nun auch der zweite, die ersten beiden amerikanischen Lebensjahrzehnte umfassende Band wieder aufgelegt wird, die Mankos aber, die dieser bei seiner Erstausgabe 1907 aufwies, nicht beseitigt wurden: Schurz hatte das Manuskript des ersten Bandes in deutscher Sprache niedergeschrieben, das wegen seines Todes im Jahr 1906 Fragment gebliebene für den zweiten dagegen in englischer Sprache. Für die deutsche Ausgabe dieses Bandes gelang es Schurz' Töchtern, die dies in die Hand nahmen, nicht durchgehend, die Übersetzung auf das hohe stilistische Niveau des ersten Bandes zu bringen, und zudem kürzten sie die Vorlage um etwa ein Fünftel, von dem sie annahmen, dass es für die deutschen Leser weniger interessant sei als für die amerikanischen.
Abhilfe hätte hier eine Neuübersetzung des kompletten englischen Textes gebracht, die jedoch mutmaßlich aus Kapazitätsgründen unterblieben ist. Ersatzweise macht Göske in dem erläuternden Anhang, der für den zweiten Band mehr als 120 Seiten umfasst, auf einzelne Übersetzungsmakel aufmerksam und kompensiert die Auslassungen durch ergänzende Mitteilungen. Die erläuternden Anhänge beider Bände - um einen wissenschaftlichen Apparat im strengen Sinne handelt es sich nicht, da die Belege für die Ausführungen zu historischen Begebenheiten, Personen und Orten fehlen - zeugen von der breiten Belesenheit des Herausgebers und präsentieren vielfach interessante Zusatzinformationen aus den Korrespondenzen Schurz' mit seiner Familie, seinem frühen politischen Mentor Gottfried Kinkel oder mit Abraham Lincoln. Gelegentlich dekuvrieren diese im unmittelbaren Ereignisgang entstandenen Zeugnisse die späteren Darlegungen des Autobiographen als nur bedingt wahrheitsgemäß und werfen somit die generelle Frage nach dem Quellenwert der Lebenserinnerungen auf, die in einem Abstand von mehreren Jahrzehnten zu dem Erlebten entstanden sind. Schurz selbst war damit unbefangen umgegangen und hatte im Vorwort konstatiert: "Ich weiß sehr wohl, daß uns das Gedächtnis zuweilen schlimme Streiche spielt, indem es uns glauben macht, tatsächlich Dinge selbst gesehen oder gehört zu haben, von denen wir nur haben reden hören, oder mit denen nur unsere Einbildungskraft lebhaft beschäftigt gewesen ist. Ich habe mich daher ernstlich bemüht, meinen eigenen Erinnerungen nicht zu viel zu trauen, sondern sie, wenn immer möglich, mit den Erinnerungen von Verwandten und Freunden zu vergleichen, sowie alte Briefe und zeitgenössische Publikationen über die darzustellenden Tatsachen zu Rate zu ziehen" (I, 4).
Über dennoch entstandene sachliche Fehler zu rechten oder gar darüber, dass Schurz' Lebenserinnerungen wie nahezu jeder autobiographische Text der Selbststilisierung dienen, würde das Augenmerk indes auf Nebenaspekte richten, denn deren besonderer Wert liegt in dem ebenso bewegten wie bewegenden Lebensweg ihres Protagonisten und seiner Fähigkeit, diesen in literarisch sehr ansprechender Form zu schildern. Die Brüche in der Biographie von Schurz waren, glaubt man seinen Selbstauskünften, rein äußerliche, da er die Freiheit und die Gleichheit als Leitmotive seines persönlichen und seines politischen Werdegangs früh erkannt und konsequent beibehalten hat: als kaum zwanzigjähriger Bonner Student, der sich in der Revolution von 1848/49 zunächst mit Worten und dann auch mit Waffen auf dem radikalen Flügel engagierte; als politischer Flüchtling in der Schweiz, in Frankreich und in Großbritannien, der mit der abenteuerlichen Befreiung seines Lehrers und Freundes Kinkel aus dem Spandauer Zuchthaus im November 1850 dauernde Popularität erlangte; als immer noch junger Immigrant und Familienvater in den USA, der sich dort rasch als Gegner der Sklaverei profilierte und als politischer Redner für die republikanische Partei Karriere machte; als wichtige Figur in dem amerikanischen Bürgerkrieg, in dem er der Union zunächst als Botschafter in Spanien und dann als Brigadegeneral diente; schließlich seit 1869 - und damit brechen die Lebenserinnerungen ab - als Senator für Missouri und späterer Innenminister der USA. Alle diese Lebensstationen beschreibt Schurz sehr detailliert, wobei seine Stärken weniger in der prägnanten Skizzierung politischer Problemkomplexe liegen als vielmehr in der farbigen Schilderung aussagekräftiger Episoden: Hier sticht als quasi abgeschlossene Erzählung innerhalb des Gesamtwerks die Befreiung Kinkels aus der Haft heraus, aber auch andere Begebenheiten, etwa seine durch erhebliche Anpassungsschwierigkeiten an das höfische Zeremoniell gekennzeichnete Akkreditierung in Madrid 1861 oder sein Treffen mit Otto von Bismarck während einer Deutschlandreise im Januar 1869, bieten eine ausgesprochen kurzweilige Lektüre. In den engeren Kreisen der an der deutschen und amerikanischen Geschichte des 19. Jahrhundert besonders Interessierten sollte die Neuausgabe der Lebenserinnerungen von Carl Schurz selbstverständlich auf positive Resonanz stoßen; eine deutlich darüber hinaus reichende Leserschaft hätte sie verdient.
Frank Engehausen