Rezension über:

Steven Biddlecombe (ed.): The Historia Ierosolimitana of Baldric of Bourgueil, Woodbridge / Rochester, NY: Boydell & Brewer 2014, CVII + 153 S., ISBN 978-1-84383-901-9, GBP 60,00
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Rezension von:
Georg Strack
Historisches Seminar, Ludwig-Maximilians-Universität München
Redaktionelle Betreuung:
Ralf Lützelschwab
Empfohlene Zitierweise:
Georg Strack: Rezension von: Steven Biddlecombe (ed.): The Historia Ierosolimitana of Baldric of Bourgueil, Woodbridge / Rochester, NY: Boydell & Brewer 2014, in: sehepunkte 16 (2016), Nr. 7/8 [15.07.2016], URL: https://www.sehepunkte.de
/2016/07/26128.html


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Steven Biddlecombe (ed.): The Historia Ierosolimitana of Baldric of Bourgueil

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Von den Chroniken, die über den ersten Kreuzzug berichten, wurde die Historia Ierosolimitana meist weniger beachtet. Ihr Verfasser, Baudri de Bourgueil, gehörte schließlich nicht zu den Augenzeugen, sondern bearbeitete lediglich einen älteren Bericht, die sogenannten Gesta Francorum. Im Rahmen der Neuedition kann Steven Biddlecombe zeigen, dass dieser Text größere Aufmerksamkeit verdient - und im Mittelalter auch fand, da er in sehr viel mehr Manuskripten überliefert ist, als bislang bekannt. Der Edition geht eine Einleitung (XI-XXIV) voran, die zunächst einen guten Überblick über Leben und Werk des Chronisten bietet: Baudri amtierte ab 1077 als Abt des Benediktinerklosters Saint-Pierre de Bourgueil in der Grafschaft Anjou. Im Jahr 1108 wurde er mit Unterstützung des Papstes zum Bischof von Dol in der Bretagne erhoben, wo er sich aber bis zu seinem Tod, der ihn 1130 im Alter von 84 Jahren ereilte, wegen zahlreicher Konflikte nur selten aufhielt. Häufiger ist er auf Kirchenversammlungen bezeugt, dürfte am Konzil von Clermont, auf dem 1095 der Kreuzzug verkündet wurde, ebenso teilgenommen haben wie am Ersten Laterankonzil 1123. Viel diskutiert ist seit jeher das poetische Werk des Abts von Bourgueil, das Biddlecombe für Fragen des Lebenslaufs ebenfalls heranzieht und etwa im Hinblick auf das "image" eines Autodidakten mit Neigung zum einfachen Landleben, das der Dichter sich selbst zuschreibt, erörtert (XXIV).

Sehr überzeugend sind Biddlecombes Thesen über die Entstehung und Datierung der Chronik (XXIV-XXX). Mit guten Argumenten unterscheidet er zwei Fassungen, von denen die erste etwas früher als bisher angenommen - nämlich schon 1105 - entstanden sein dürfte. Bald nach der Erhebung zum Bischof von Dol bearbeitete Baudri seine Erzählung. Er ergänzte unter anderem Angaben zu Kreuzfahrern aus der Normandie und der Bretagne, also zu Personen aus seinem neuen geografischen Wirkungskreis, über die Appendix 2 weitere Informationen liefert (125-127). Danach übersandte er die Chronik an Abt Peter von Maillezais mit einem Brief, der in Appendix 1 zusammen mit dem Antwortschreiben ediert wird (121-124). Der befreundete Abt äußerte sich ganz zu Recht wohlwollend über die Erzählung, denn Baudri hatte in die Bearbeitung der Gesta Francorum seine beachtlichen literarischen Fertigkeiten einfließen lassen. Biddlecombe analysiert diese in einem eigenen Kapitel knapp aber zutreffend, identifiziert dabei gewisse Bezüge zu antiken Vorlagen ebenso wie die wichtigsten Stilmittel (XXX-XL). Neben spezifischen Klangfiguren und der Neigung zu Wortspielen hebt er vor allem die zahlreichen fingierten Reden hervor. Sie rekurrieren häufig auf Vorgaben der klassischen Oratorik, etwa wenn der süditalienische Normannenfürst Bohemund die anderen Anführer des Kreuzzugs wie römische Senatoren als patres conscripti anspricht (XXXVIf.). Auch auf biblische und patristische Bezüge geht der Editor ein, insbesondere auf die von den Kirchenvätern übernommene Theorie des bellum iustum, die den Kreuzzug als "gerechten Krieg" erscheinen lässt (XXXVIIIf.).

Danach widmet sich Biddlecombe in einem eigenen, lesenswerten Kapitel den historiografischen Besonderheiten der Historia Ierosolimitana. Dazu gehört etwa die - verglichen mit anderen Kreuzzugschronisten wie Guibert de Nogent oder Robertus Monachus - ungewöhnlich positive Sicht auf den griechischen Osten (XL-LV). Baudri sieht hier die Ursprünge des Christentums, Ost- und Westkirche bilden eine familia, zu deren Schutz der Kreuzzug unternommen wird. Zudem wird die Annahme der älteren Forschung relativiert, die Gesta Francorum und ihre Bearbeitungen seien als "propaganda tool" (LVII) verfasst worden, um die Werbung für einen neuen Kriegszug ins Heilige Land unter Bohemunds Führung zu unterstützen. Für propagandistische Zwecke erscheint schon das Bild, das die Gesta von dem Kreuzfahrer entwerfen, zu wenig positiv. In der Chronik Baudris weist Biddlecombe eine differenzierte, ja ambivalente Darstellung Bohemunds nach, die er sehr plausibel in eine epische Erzähltradition vom "fehlerhaften Helden" (flawed hero) einordnet (LV-LXX).

Ganz zu Recht wird auf die relativ breite Rezeption der Historia Ierosolimitana im Mittelalter hingewiesen, die unter anderem bei Ordericus Vitalis, Vinzenz von Beauvais und Humbertus de Romanis belegt ist (LXX-LXXV). Es wäre sogar noch Wilhelm von Tyrus zu ergänzen, wie ein Blick in die Edition von Robert Huygens zeigt. Im 17. Jahrhundert erstellte der französische Gelehrte Jacques Bongars eine erste Fassung der Kreuzzugschronik, die Jacques-Paul Migne 1854 erneut abdruckte. Erst 1879 gab Charles Thurot im Rahmen des Recueil des historiens des croisades eine kritische Edition heraus, zog dafür aber nur sieben Handschriften heran. Biddlecombe machte 17 weitere Manuskripte in ganz Europa ausfindig, die er in einem eigenen Kapitel jeweils mit instruktiven Angaben zu Herkunft, Datierung und Ausstattung präsentiert (LXXV-CI). Demnach stammen die meisten Handschriften aus dem hochmittelalterlichen Frankreich, daneben spielt die Überlieferung in England eine gewisse Rolle. Die späteste Abschrift findet sich interessanterweise in Spanien, wo der Text im 15. Jahrhundert noch in die Volkssprache übertragen wurde.

Ediert wird schließlich die ältere Fassung der Historia Ierosolimitana von 1105, und zwar nach der Leithandschrift Paris, Bibliothèque Nationale de France, MS latin 5134 (1-120). Der kritische Apparat gibt lediglich die Varianten wieder, biblische und klassische Zitate müssen über einen (wohl nicht ganz vollständigen?) Index im Anhang nachgeschlagen werden (145-147). Bei der Interpunktion orientiert sich die Edition an den Vorgaben der Handschrift, was einen Eindruck des Originals vermitteln mag, aber die Lektüre eher erschwert. Immer wieder stören zudem kleinere Fehler den Lesefluss, leider auch an zentralen Stellen wie der Ablassverkündung durch Urban II. Wenn der Papst die Beichte als Voraussetzung definiert, dürfte in der Handschrift "confessis peccatorum suorum ignorantiam ..." zu lesen sein, nicht "confessis peccatorum suoram ignorantium ..." (10). Freilich sind derartige Ausrutscher nicht die Regel, eine erste Durchsicht zeigt einen weitgehend verlässlichen Text, der sicher zur weiteren Beschäftigung mit der Kreuzzugschronik anregen wird. Steven Biddlecombe gebührt zudem das Verdienst, erstmals die mittelalterliche Überlieferung der Historia Ierosolimitana und ihre besondere Stellung innerhalb der Kreuzzugshistoriografie erschlossen zu haben.

Georg Strack