Rezension über:

Rachel Stone / Charles West (eds.): Hincmar of Rheims. Life and work, Manchester: Manchester University Press 2015, XV + 309 S., ISBN 978-0-7190-9140-7, GBP 75,00
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Rezension von:
Clemens Gantner
Institut für Mittelalterforschung, Österreichische Akademie der Wissenschaften, Wien
Redaktionelle Betreuung:
Andreas Fischer
Empfohlene Zitierweise:
Clemens Gantner: Rezension von: Rachel Stone / Charles West (eds.): Hincmar of Rheims. Life and work, Manchester: Manchester University Press 2015, in: sehepunkte 16 (2016), Nr. 9 [15.09.2016], URL: https://www.sehepunkte.de
/2016/09/27534.html


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Rachel Stone / Charles West (eds.): Hincmar of Rheims

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Der vorliegende Sammelband widmet sich einer der schillerndsten Gestalten des neunten Jahrhunderts: Hinkmar, Erzbischof von Reims [1]. Der von Rachel Stone (London) und Charles West (Sheffield) herausgegebene Band ist das Resultat einer Serie von Vorträgen am International Medieval Congress in Leeds (GB) im Jahr 2012. Die Herausgeber berichten im Vorwort von regem Zuschauerinteresse bei dem Kongress, das sie erst dazu bewogen habe, eine Veröffentlichung anzustreben - und tatsächlich kann sich das Ergebnis durchaus sehen lassen. So konnte eine Reihe international anerkannter Spezialisten als Beiträger gewonnen werden. Ein Blick auf das Inhaltsverzeichnis belegt außerdem, dass es gelungen ist, ein ziemlich umfassendes Bild Hinkmars zu präsentieren. Im Lichte der Interessenslage der neuesten Forschung ist es lediglich zu bedauern, dass sich kein Artikel dezidiert mit Hinkmars zentraler Rolle im Ehestreit Lothars II. auseinandersetzt. Aber einerseits wird dem sehr wichtigen Traktat De divortio beispielsweise im Beitrag von Simon Corcoran (Kapitel 7) durchaus Beachtung zuteil, andererseits haben die beiden Herausgeber in dieser Hinsicht selbst schon für Abhilfe gesorgt: Vor kurzem ist ihre wunderbare Übersetzung des Traktats mit reichhaltigem Kommentar in den Manchester Medieval Sources erschienen.[2]

In ihrer Einleitung zum Band (1-43) widmet sich Rachel Stone zunächst der Forschungsgeschichte. Sie formuliert noch einmal den Anspruch des Werks, hier durchaus auch einige Lücken zu schließen. Danach liefert sie eine konzise und gut lesbare Zusammenfassung von Hinkmars Karriere und bettet diese dann in die karolingische Geschichte des neunten Jahrhunderts ein. In Kapitel 2 (44-59) konnte mit Janet Nelson die wohl in der Frage kompetenteste Forscherin überhaupt dazu gewonnen werden, über Hinkmars historiographisches Werk zu schreiben. In ihrem Beitrag beschränkt sie sich nicht nur auf die Annales Bertiniani, welche Hinkmar in den 860ern von seinem Antagonisten Prudentius von Troyes übernahm, sondern bezieht auch Frühwerke des Autors, die historiographische Züge tragen, mit ein. Christine Kleinjung (3, 60-75) beschäftigt sich im Anschluss mit einer der prägendsten Affären aus Hinkmars Zeit als Erzbischof, dem Konflikt mit seinem Neffen und Namensvetter Hinkmar, Bischof von Laon. Sie konzentriert sich dabei fast völlig auf die Perspektive, die Hinkmar von Reims' Schriften bieten. Ein kleiner Ausblick auf die päpstliche Position zu dem Streit wäre aber vielleicht doch lohnend gewesen. Elina Screen stellt in Kapitel 4 (76-92) das schwierige Verhältnis Hinkmars zu Lothar I gelungen dar. Darüber hinaus schließt sie Betrachtungen zu den Briefen der sogenannten Collectio Britannica an, die sie als teilweise verfälscht oder gänzlich gefälscht ausweist. Clémentine Bernard-Valette (5, 93-109) widmet sich in der Folge der Krise des westfränkischen Reichs im Jahr 875, die durch den Einfall Ludwigs des Deutschen ausgelöst wurde. Sie untersucht Hinkmars De fide Caroli regi servanda und zeigt auf, dass Hinkmar hier wohl nicht zu einer Unterwerfung unter Ludwig aufrufen wollte, sondern eher alles daran setzte, den Frieden im westlichen Karolingerreich zu wahren. Margaret McCarthy (6, 110-128) schließt hier zeitlich fast direkt an und thematisiert die Situation nach dem Tod Karls des Kahlen 877. Sie zeigt, dass Hinkmars Einfluss auf den neu gekrönten Ludwig den Stammler zwar zu Beginn sehr groß war, aber dann rasch abgenommen haben muss.

Mit dem 6. Kapitel endet dieser stark an der Historiographie orientierte Abschnitt des Bandes und es folgen vier Beiträge, die sich vor allem rechtshistorischen Fragen widmen. Zunächst mag es überraschend sein, dass der Band nicht in übergeordnete Sektionen eingeteilt wurde; der Grund dafür war wahrscheinlich, dass eine dritter großer thematischer Abschnitt für die letzten Beiträge des Bandes nicht gleichermaßen möglich gewesen wäre, wie wir unten noch sehen werden.

In Kapitel 7 (129-155) zeigt Simon Corcoran zunächst, wie Hinkmar in einer Vielzahl von Schriften das römische Recht in verschiedenen Fassungen und aus unterschiedlichen Quellen anwandte. Philippe Depreux (8, 156-169) schließt dann mit einer Untersuchung zu Hinkmars Verwendung von Kapitularien fast nahtlos an, indem er sich nun auf die Verwendung des eher zeitgenössischen Rechts konzentriert. Interessant ist, dass sich der Erzbischof von Reims offenbar besonders an den Texten aus der Zeit Karls des Großen und Ludwigs des Frommen orientierte - also an Kapitularien, die wahrscheinlich in seiner Ausbildungszeit wichtig waren. Etwas abstrakter mit Fragen des Rechts setzt sich auch Marie-Céline Isaïa (9, 170-189) auseinander. Anhand einer Untersuchung von Hinkmars Vita des Heiligen Remigius von Reims spürt sie Hinkmars Vorstellungen von Rechten und Pflichten des Bischofsamtes nach. Sie untersucht dafür auch alternative Fassungen der Vita. Der Aufsatz von Sylvie Joye (10, 190-210) über den Traktat De raptu beendet dann diesen thematischen Block. Dieser Traktat wurde in den 850er Jahren unter starkem Einfluss Hinkmars verfasst und setzt sich nicht nur mit der namensgebenden Problematik der Entführungen mit dem Ziel die Ehe zu erzwingen auseinander, sondern ganz generell mit Fragen des Eherechts.

Nach den beiden relativ kohärenten Abschnitten zu Hinkmars Karriere und der Geschichte des westfränkischen Reichs einerseits und jenem zu Hinkmars Rechtsverständnis andererseits, folgen noch vier Beiträge, die sich nicht leicht zu einer dritten Sektion zusammenfassen haben lassen, aber nichtsdestoweniger wichtige Aspekte zu Wirken und Werk des Reimser Erzbischofs zum Thema haben.

Der Artikel von Josiane Barbier (11, 211-227), eigentlich eine Neufassung eines bereits vorher auf französische erschienen Texts, befasst sich mit Hinkmars persönlichem Eingriff in die Verwaltung des Reimser Landbesitzes. Sie verwendet die Nota-Zeichen in einer späten Abschrift des Polyptichons von St. Remi (ein Verzeichnis der Besitztümer des Klosters) um Hinkmars persönlichen Eingriff in eine Auseinandersetzung mit den Sklaven des Landguts Courtisols zu demonstrieren. Praktischerweise ist am Ende eine Teiledition der betreffenden Handschriften-Sektion angeschlossen. Daran anschließend zeigt Charles West in Kapitel 12 (228-246) Hinkmars Einfluss auf die Organisation seiner Diözese in Pfarren und auf die für die Pfarren zuständigen Priester. Er plädiert dafür, die entstehende Parochialstruktur nicht nur als Vorläufer späterer Entwicklungen zu sehen, sondern ihre Funktion im neunten Jahrhundert zu sehen. Für Hinkmar ging es dabei nicht nur die Gewährleistung von Seelsorge sondern um die Durchsetzung der kirchlichen Ordnung im Kleinen. In Kapitel 13 (247-267) beschäftigt sich Matthew Gillis unter dem launigen Titel "Heresy in the flesh" mit der Reimser Perspektive auf einen der größten religiösen Skandale des neunten Jahrhunderts, der Kontroverse um die Lehre der doppelten Prädestination des Gottschalk von Orbais. Er zeigt, dass diese auch nach der Inhaftierung Gottschalks im Kloster Hautvillers, also in der Einflusssphäre der Reimser Kirche, durchaus Dissens in der Diözese Hinkmars verursachte. Hinkmar musste auch die Beschlüsse gegen Gottschalk mehrfach verteidigen, sowohl innerhalb seiner Diözese als auch gegenüber Papst Nikolaus I. Zum Abschluss des Bandes widmet sich dann Mayke de Jong (14, 268-288) dem Fall eines rebellierenden Priesters namens Trising. Auch hier musste sich Hinkmar dem Papst gegenüber rechtfertigen. De Jong demonstriert an diesem Beispiel sehr anschaulich, dass Hinkmars Untergebene nun neue Werkzeuge zur Hand hatten, um ihre Position zu stärken: einerseits konnten der Pseudoisidorische Fälschungskomplex hinzugezogen werden, andererseits wurde es generell üblicher, an die übergeordnete päpstliche Autorität zu appellieren. Als Appendix liefert die Autorin noch eine praktische Teilübersetzung des entscheidenden Briefes Hinkmars.

Insgesamt liegt hier ein sehr gelungener Band vor, der das Bild Hinkmars von Reims wesentlich bereichert. Viele Beiträge bringen die Forschung entscheidend voran und werden in Zukunft in ihrem jeweiligen Bereich eine neue Richtschnur bilden. Der seit kurzem bereits um etwa 35 Euro als Taschenbuch erhältliche Band ist jedem Interessierten sehr ans Herz zu legen.


Anmerkungen:

[1] Der Band verwendet die etwas antikisierende Schreibweise 'Rheims', sowohl im Französischen als auch im Deutschen ist mittlerweile die in der vorliegenden Besprechung verwendete einfachere Schreibung üblich. Begrüßenswert ist allerdings, dass im Sammelband in dieser Hinsicht Einheitlichkeit erreicht wurde.

[2] Rachel Stone / Charles West (ed.): The Divorce of King Lothar and Queen Theutberga. Hincmar of Rheim's De divortio, Manchester 2016.

Clemens Gantner