Heinz A. Richter: Geschichte Griechenlands im 20. Jahrhundert. Band 1: 1900-1939 (= Peleus. Studien zur Archäologie und Geschichte Griechenlands und Zyperns; Bd. 67,1), zweite, völlig überarbeitete Auflage, Ruhpolding: Verlag Franz Philipp Rutzen 2015, 355 S., ISBN 978-3-447-10396-1, EUR 40,00
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Die ersten vier Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts spielten eine außerordentlich wichtige Rolle in der griechischen Geschichte. Zwischen 1912 und 1919 verdoppelten sich Territorium und Bevölkerungszahl fast. In den Balkankriegen wurde Makedonien erworben, nach dem Ersten Weltkrieg Westthrakien. Es folgte der Versuch, die "Megali Idea" zu verwirklichen, also Konstantinopel und die Ostküste der Ägäis zu erobern. Das katastrophale Scheitern der "Megali Idea" führte wenige Jahre später zur "Umsiedlung" der Griechen in Kleinasien und der Türken in Makedonien. Seit 1922/23 lebte die große Mehrzahl der Griechen in einem Griechenland fast ohne Minderheiten. Für mehr als ein Jahrzehnt war Griechenland eine Republik. Die turbulente innenpolitische Entwicklung führte schließlich zur Abschaffung des parlamentarischen Systems und mit Billigung von König Georg II. zur Errichtung einer faschistischen (oder faschistoiden) Herrschaft unter General Metaxas. Heinz Richter, der sich seit Jahrzehnten mit Griechenland beschäftigt, legt nun mit dem hier zu besprechenden Band einen Überblick über diese Epoche vor.
In den ersten beiden Kapiteln (Vom Aufstand in Kreta bis zu den Balkankriegen und Von den Balkankriegen bis zur alliierten Intervention 1912-1915) gibt der Verfasser zunächst einen knappen Überblick. Mit der anglo-französischen Intervention, die von Eleftherios Venizelos (1864-1936) gegen den Willen von König Konstantin I. betrieben wurde, wird die Darstellung ausführlicher. Den sieben Jahren von 1915 bis 1922 widmet Richter etwa 150 Seiten, also fast die Hälfte des Buches (u.a. die Kapitel Von der alliierten Landung bis zum nationalen Schisma 1915-1917, Die Pariser Friedenskonferenz 1919-1920, Der kleinasiatische Feldzug und die Katastrophe 1921-1922). Richter beschreibt, wie es den Alliierten und Venizelos gelang, Griechenland zur Aufgabe der Neutralität zu bewegen und welche Druckmittel dabei angewendet wurden. Er betont ferner, dass Venizelos ebenso wie die folgende monarchistische Regierung versuchte, die "Megali Idea" zu verwirklichen, was letztlich zur Vertreibung der Griechen aus Kleinasien führte. In den folgenden Kapiteln (Griechenland 1923-1932 und Die Krise der Republik 1932-1935) wird vor allem die fehlende Stabilität des politischen Systems deutlich. Im Schlusskapitel Die Diktatur 1936-1939 wird die Herrschaft des Generals Metaxas analysiert.
Richters Buch bietet einen vorzüglichen Überblick über die griechische Politik dieser Jahrzehnte. Auf die Politik der Großmächte hätte er dabei vielleicht noch etwas mehr eingehen können. Das hätte aber möglicherweise den Rahmen dieses Überblicks gesprengt. [1] Wie Harry Cliadakis in seinem Buch "Fascism in Greece" [2] bezeichnet Richter die Diktatur von Metaxas als faschistisch, und wie schon in seinem Nachwort zu dem Buch von Cliadakis verwendet er zur Kennzeichnung des Systems den Begriff des "Klientelfaschismus". Dafür ist ausschlaggebend, dass die Diktatur von Metaxas zwar Merkmale eines faschistischen Systems aufwies, eine moderne Massenpartei aber fehlte. Diese konnte Richter zufolge ohne weiteres durch das Klientelsystem ersetzt werden.
Richter widerspricht in wichtigen Punkten der bisher herrschenden Meinung. Er stützt sich dabei auf bisher nicht bekannte oder beachtete Literatur. Häufig wurde dem König ein prodeutscher Kurs vorgeworfen. Richter zeigt, dass dies keineswegs der Fall war, sondern dass der Monarch glaubte, die Neutralität diene den Interessen Griechenlands am besten. Von einem Kriegseintritt hatte Griechenland keine Gewinne zu erwarten. Konstantinopel in griechischer Hand hätte Russland niemals zugelassen. Auch das damals bulgarische Westthrakien kam nicht in Frage, da die Alliierten noch mit Bulgarien verhandelten. Richter macht glaubhaft, dass das negative Bild des Königs in einem Teil der Literatur auf die Kriegspropaganda der Alliierten, insbesondere der Franzosen, zurückgeht. Die Politik der Alliierten sieht Richter kritisch, denn die Besetzung von Teilen des neutralen Landes durch alliierte Truppen war ebenso völkerrechtswidrig wie die über Griechenland verhängte Blockade. Ferner erlaubten die Alliierten, insbesondere die Engländer, nach dem Krieg, dass Venizelos Smyrna und Westanatolien besetzen ließ. Dann ließen sie die Griechen aber ohne jegliche Unterstützung.
Von besonderem Interesse ist, wie Richter die Rolle von Venizelos bewertet. Venizelos war wohl der wichtigste griechische Politiker in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts. Zwischen 1910 und 1933 war er mehrfach Ministerpräsident, entscheidende Weichenstellungen gehen auf ihn zurück. Seine Unterstützung des Putsches von 1935 beendete seine politische Laufbahn. Richter kommt zu folgendem Resümee: "Er hatte zwischen 1909 und 1912 die überfälligen zivilen und militärischen Reformen durchgeführt und damit die Voraussetzungen für die Siege in den Balkankriegen geschaffen." 1915 zog er jedoch das Land in den Krieg hinein: "Seine fahrlässige Außenpolitik ließ das Land ohne Bundesgenossen in das kleinasiatische Abenteuer geraten, das zu der größten Katastrophe der griechischen Geschichte seit der Antike führte. [...] Seine Teilnahme am Putsch von 1935 erschütterte das Fundament der griechischen Politik dadurch, dass er das empfindliche Gleichgewicht zwischen den Liberalen und den Populisten, das sich in den vergangenen Jahren herausgebildet hatte, zerstörte." Die Folge war ein Rechtsruck in der griechischen Politik: "Zugleich ermöglichte der fehlgeschlagene Putsch eine viel breitere Säuberung des Offizierskorps und des Beamtenapparates. Die Umbesetzungen im Offizierskorps der vorangegangenen Monate hatten im Wesentlichen nur exponierte republikanische Militärs getroffen. Venizelos' Beteiligung am Putsch provozierte nun eine breit angelegte Säuberung aller Bereiche von allen venizelistischen Kräften. Venizelos' Fehler öffnete somit nicht nur den Weg zur Restauration, sondern letztlich auch den zur Diktatur." (262)
Oft wird die Verdoppelung von Fläche und Bevölkerung Griechenlands einfach als Verdienst von Venizelos betrachtet. In der Tat haben die von ihm durchgeführten Reformen die Erfolge in den Balkankriegen erst ermöglicht. Die große Koalition der Balkanstaaten, der das Osmanische Reich wenig entgegenzusetzen hatte, wurde allerdings von Nikolai Hartwig, dem Vertreter Russlands in Serbien, gebildet. Die Eroberung von Saloniki ist, wie Richter bemerkt, das Verdienst der von Kronprinz Konstantin geführten Armee. Die kritische Bewertung des Verhaltens von Venizelos während des Ersten Weltkrieges überzeugt. Es ist wohl kaum zu rechtfertigen, dass er hinter dem Rücken des Königs die Alliierten zur Verletzung der griechischen Neutralität ermunterte. Es gelang Venizelos nur um den Preis der Spaltung des Landes, dieses an der Seite der Alliierten in den Krieg zu führen. Vorteile für Griechenland sind dabei nicht zu erkennen. Venizelos setzte sich im Machtkampf mit dem König durch. Als Begründung für einen Krieg ist das aber wohl kaum ausreichend.
Gegen die Verantwortung von Venizelos für die "kleinasiatische Katastrophe" könnte man einwenden, dass er ja schon 1920 abgewählt wurde und in der Folge für Verhandlungen und gegen eine Offensive eintrat. Wie Richter betont, hatte Venizelos aber eine fast aussichtslose Lage hinterlassen. Die griechische Armee stand in Anatolien und befand sich im Krieg. Mit der Unterstützung der Alliierten konnte sie nicht rechnen. Da er nun Privatmann war, entging Venizelos der Verantwortung für die Folgen. Ende der 1920er-Jahre gelang es ihm zwar, das politische System vorübergehend etwas zu stabilisieren. Mit der Unterstützung eines dilettantisch durchgeführten Militärputsches hinterließ er aber einen Scherbenhaufen. Man wird Richters Feststellung zustimmen können, dass das - wenn auch gegen den Willen von Venizelos - den Weg zur Diktatur ebnen half.
Fazit: Richters Buch bietet mehr als einen gut lesbaren Überblick über die politische Geschichte Griechenlands in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts. Von besonderem Interesse ist die ungewohnte, aber weithin überzeugende Bewertung der Rolle, die Venizelos und König Konstantin in der Geschichte Griechenlands spielten.
Anmerkungen:
[1] Vgl. dazu Heinz A. Richter: Griechenland 1915-1917 im Spiegel russischer Akten, Mainz / Ruhpolding 2016.
[2] Harry Cliadakis: Fascism in Greece. The Metaxas Dictatorship 1936-1941, Mainz / Ruhpolding 2014. Vgl. meine Rezension, in: sehepunkte 15 (2015), Nr. 9 [15.09.2015], URL: http://www.sehepunkte.de/2015/09/27022.html.
Harald Gilbert