Sonja Levsen / Cornelius Torp (Hgg.): Wo liegt die Bundesrepublik? Vergleichende Perspektiven auf die westdeutsche Geschichte, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2016, 362 S., ISBN 978-3-525-30058-9, EUR 50,00
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Am Ende steht ein klares Bekenntnis: Ex comparatione lux - so überschreibt Kiran Patel sein ausführliches Fazit des Sammelbandes von Sonja Levsen und Cornelius Torp und der Tagung, aus der der Band hervorging. Angesichts der Defensive, in die der einst als "Königsweg" historischer Forschung gepriesene Vergleich seit geraumer Zeit geraten ist, ist diese Emphase, mit der Patel den vergleichenden Ansatz würdigt, durchaus überraschend und erfrischend. Patel setzt sich in seinem Fazit nicht nur noch einmal auf verschiedenen Ebenen mit theoretischen, methodischen und forschungspraktischen Fragen des Vergleichs auseinander, sondern geht zunächst auf dessen politische Funktion ein, die für die Bundesrepublik in der Tat eine ganz besondere war. Er hebt hervor, dass der (Selbst-)Vergleich die Staatlichkeit der 1949 gegründeten Bundesrepublik untermauerte und einforderte. Die Ähnlichkeiten zu anderen, westlichen Demokratien sowie die Abgrenzungen zu Weimar, zum Nationalsozialismus und zur DDR nahmen einen zentralen Platz der Selbstbeschreibung und Selbstlegitimierung der frühen Bundesrepublik ein. Vergleichen, so Patel, sei daher auch "alles andere als politisch unschuldig", weder das wissenschaftliche noch das nichtwissenschaftliche. Wer vergleicht, steht folglich unter einem besonderen Begründungsdruck: Warum dieses Vergleichsland und nicht ein anderes, warum überhaupt ein Vergleich auf Länderebene anstatt auf der Ebene von Regionen oder Städten, inwieweit präfiguriert der Vergleichsgegenstand und der Vergleichspartner das Ergebnis, wie geht man mit zeitgenössischen, sozialwissenschaftlichen Vergleichsdaten und -studien um, wie kann man der Reifizierung von Untersuchungseinheiten entgehen - die Frageliste ließe sich beliebig fortsetzen.
Bei aller unterschiedlichen Fokussierung im Einzelnen befindet sich Patel dabei im Wesentlichen auf einer Linie mit den Herausgebern. In ihrer Einleitung setzen sich Sonja Levsen und Cornelius Torp ebenso differenziert mit den Problematiken des Vergleichs auseinander, halten diesen aber letztlich für unhintergehbar. Sie setzen den Vergleich mit den "Meistererzählungen" der Ankunft im Westen und der Sonderwegsdebatte in Beziehung und zielen über den Vergleich auf eine "Neuverortung der Bundesrepublik". Dass der Vergleichsmaßstab im Wesentlichen Westeuropa und die USA bleibt, hat auf der einen Seite sicher forschungspragmatische, aber durchaus auch methodische Gründe. Mit Blick auf die Globalisierung und die Globalisierungsgeschichte plädiert Kiran Patel zwar durchaus nachvollziehbar für eine Ausweitung der Vergleichsperspektive. Dagegen spricht allerdings das Argument, das Rüdiger Graf in seinem Beitrag bereits gegen einen systematischen Vergleich der Energiepolitik der Bundesrepublik und den USA vorbringt: Die Voraussetzungen seien so unterschiedlich gewesen, dass ein Vergleich nur sehr begrenzt erkenntnisfördernd sei. Das Argument, dass die Beschränkung des Vergleichs auf die "üblichen Verdächtigen" häufig modernisierungstheoretischen Grundannahmen verpflichtet ist, scheint daher nur begrenzt zwingend. Denn je unterschiedlicher die Gesellschaften und die Rahmenbedingungen sind, desto komplexer muss ein Vergleich ausfallen, da er sonst leicht schematisch zu werden droht.
Ein grundsätzliches Urteil darüber, welches Vergleichsland "besser" als ein anderes ist, macht allerdings genauso wenig Sinn, wie die Auseinandersetzung darum, ob ein vergleichender Zugriff per se sinnvoller oder weniger sinnvoll ist als die Fokussierung auf Fragen des Transfers. Dies hängt von der gewählten Fragestellung ab und die Beiträge des Bandes weisen hier ein breites Spektrum auf. Deutlich wird in den Beiträgen allerdings auch, dass der Vergleich eher auf dünnes Eis führt als die Frage des Transfers. Sehr gut lässt sich dies an dem interessanten Beitrag von Christina von Hodenberg verfolgen, die am Beispiel der britischen Fernsehserie "Till Death Us Do Part" zeigt, wie das Format in die USA als "All in the Family" und nach Deutschland als "Ein Herz und eine Seele" transferiert wurde und dabei jeweils extrem erfolgreich war. Diese geradezu modellhafte Ausgangssituation ermöglicht es einerseits zu zeigen, wie sich der Transfer vollzog und andererseits die Serien dann miteinander zu vergleichen. Hier wird sehr deutlich, dass sich die Fragen des Transfers auf empirisch gesichertem Boden vergleichsweise leicht klären lassen. Die Fragen des Vergleichs erweisen sich dagegen als sehr viel komplexer und risikoreicher: War das deutsche Fernsehangebot der 70er Jahre tatsächlich "trocken und aufklärerisch" und das englische und amerikanische entsprechend unterhaltsamer? Ging den Produzenten der englischen und amerikanischen Version tatsächlich jeder "aufklärerische" oder "kulturrevolutionäre" Impetus ab und eröffnete das kommerzielle Mediensystem tatsächlich mehr Freiräume als das öffentlich-rechtliche? Auch wenn sich der eine oder andere Einwand dagegen vorbringen ließe, eröffnen diese Vergleichsfragen genau den Raum für weitere Fragen, die auch wieder zu neuen Perspektiven führen. Auch bei der Lektüre anderer Beiträge gibt es immer wieder Punkte, die Widerspruch erzeugen mögen. Fiel der Unterschied in der Menschenrechtspolitik zwischen der Bundesrepublik einerseits und den USA, den Niederlanden und Großbritanniens in den 1970 Jahren tatsächlich so scharf aus, wie Jan Eckel dies beschreibt? Welche Praxis folgte der Rhetorik Jimmy Carters tatsächlich? Müsste man für Fragen der Menschenrechtspolitik der Bundesrepublik nicht auch die diffizilen Verhandlungen mit der DDR um die Freilassung von Häftlingen etc. mit einbeziehen? Aber auch hier gilt, dass ein Vergleich, zumal der zwischen mehreren Ländern notwendig Fragen aufwirft und zum Teil auch Widerspruch provoziert. Mit seinem breiten Panorama geht Eckel ohne Zweifel ein hohes Risiko ein, das sich aber gerade auch dann lohnt, wenn einem nach der Lektüre nicht nur zum Nicken zumute ist.
Auf alle Beiträge kann hier nicht detailliert eingegangen werden, grundsätzlich aber gilt, dass diese durchgehend lesenswert sind und von Autorinnen und Autoren stammen, die in ihren jeweiligen Themen breit ausgewiesen sind und insofern auch mit dem jeweils gewählten Ansatz reflektiert und differenziert umgehen. Die Herausgeber des Bandes konzedieren, dass der Schwerpunkt des Bandes auf sozialhistorischen Themen liegt, da sich diese für einen komparativen Zuschnitt besser anzubieten scheinen als andere. Bis zu einem gewissen Grade mag das stimmen, gleichwohl sollte man den komparativen Ansatz nicht per se dem sozialgeschichtlichen Zugriff zuordnen. Vermeiden lässt sich dies vor allem dann, wenn der Vergleich als zentrales, oft auch interessengeleitetes Deutungsmuster von Gesellschaften und gesellschaftlichen Gruppen noch stärker in den Forschungsprozess einbezogen wird. So sagt etwa der Beitrag von Claudia Gatzka zur Frage der "Demokratisierung" in Italien und der Bundesrepublik nicht in erster Linie etwas darüber aus, wie ähnlich oder wie unterschiedlich die Prozesse jeweils abgelaufen sind, sondern vor allem darüber, wie sich die Gesellschaften jeweils selbst verorten, wahrnehmen und welchen Vergleichsmaßstab sie dazu verwenden. Diese Ebene klingt bei den Herausgebern, im Fazit und in verschiedenen Beiträgen immer wieder an, gleichwohl ließe sich dies Perspektive in der komparatistischen Forschung sicher noch stärker profilieren. So bietet der Band sowohl für diejenigen, die Interesse an den jeweils behandelten Themen haben, als auch für diejenigen, für die die methodischen Fragen stärker im Fokus stehen, vielfältige Anknüpfungspunkte. Wer immer sich künftig mit der Geschichte der Bundesrepublik befasst und dabei über den nationalgeschichtlichen Rahmen hinausblicken will, kommt an diesem Band nicht vorbei.
Jörg Requate