Robert Radu: Auguren des Geldes. Eine Kulturgeschichte des Finanzjournalismus in Deutschland 1850-1914 (= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft; Bd. 224), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2017, 382 S., 10 s/w-Abb., 3 Tbl., ISBN 978-3-525-35206-9, EUR 70,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Peter Pragal: Wir sehen uns wieder, mein Schlesierland. Auf der Suche nach Heimat, München / Zürich: Piper Verlag 2012
Robert L. Nelson: German Soldier Newspapers of the First World War, Cambridge: Cambridge University Press 2011
Shelley Harten: Reenactment eines Traumas: Die Entebbe Flugzeugentführung 1976. Deutsche Terroristen in der israelischen Presse, Marburg: Tectum 2012
Thomas Großmann: Fernsehen, Revolution und das Ende der DDR, Göttingen: Wallstein 2015
Olaf Kistenmacher: Arbeit und »jüdisches Kapital«. Antisemitische Aussagen in der KPD-Tageszeitung Die Rote Fahne während der Weimarer Republik, Bremen: edition lumière 2016
Gangolf Hübinger: Gelehrte, Politik und Öffentlichkeit. Eine Intellektuellengeschichte, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2006
Konrad Dussel: Deutsche Tagespresse im 19. und 20. Jahrhundert, Münster / Hamburg / Berlin / London: LIT 2004
Florian Altenhöner: Kommunikation und Kontrolle. Gerüchte und städtische Öffentlichkeiten in Berlin und London 1914/1918, München: Oldenbourg 2008
Auch wenn die Mediengeschichte insgesamt seit einigen Jahren einen erheblichen Aufschwung genommen hat, sind Forschungen zur Geschichte des Journalismus und zur journalistischen Praxis immer noch recht überschaubar. Vor allem jenseits des politischen Bereichs sind die Kenntnisse über die Entwicklung der Sparten und Teilbereiche, des entsprechenden Journalismus und der Praktiken noch kaum vorhanden - insbesondere für das 19. Jahrhundert, aber auch darüber hinaus. Das hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass die konkrete journalistische Arbeit jenseits der in den Zeitungen nachlesbaren Endprodukte nicht leicht greifbar ist. Redaktionsarchive - zumindest solche, die für die Forschung zugänglich waren - gibt es für Deutschland so gut wie nicht. Nachlässe mit Korrespondenzen von Journalisten sind selten und auch andere Ego-Dokumente nur in sehr begrenztem Umfang vorhanden. So bedarf der Suche nach vielen Puzzleteilen aus unterschiedlichen Kontexten, um so ein Bild entwerfen zu können.
Dieser Arbeit hat sich Robert Radu in Bezug auf die Geschichte des Finanzjournalismus zwischen 1850 und 1914 unterworfen und nun eine profunde Studie vorgelegt, die die Kenntnisse über diesen Bereich ganz erheblich erweitert. Radu begreift den Untersuchungszeitraum "als Konstituierungsphase des Finanzjournalismus in Deutschland", in der, so seine Ausgangsthese, "eine genuin neue, medienvermittelte und von konkreten Orten entkoppelte Öffentlichkeit" entstand, "in der finanzielle Informationen bereitgestellt und finanzielle Themen behandelt wurden." (15) Sein Erkenntnisinteresse richtet sich auf dieser Basis einmal auf die Frage nach der "Genese, Entwicklung und Professionalisierung eines finanzjournalistischen Feldes" sowie der sich darin wandelnden Normen und Praktiken. Zweitens geht es der Arbeit um "die politische und handlungsleitende Relevanz" der finanzpolitischen Kommunikation für Staat und Gesellschaft. (15) Dabei verortet Radu seine Studie insgesamt in eine "Gesellschaftsgeschichte der öffentlichen Kommunikation" und betont damit zugleich ihre Anschlussfähigkeit für eine "Kulturgeschichte des Politischen" und eine "kulturhistorisch akzentuierte Wirtschaftsgeschichte".
Radu geht in seiner Analyse im Wesentlichen chronologisch vor und unterteilt seinen Untersuchungszeitraum in drei Phasen, denen jeweils ein Kapitel gewidmet ist. Die Zeit zwischen 1850 und 1879 sieht er als Formierungsphase des Finanzjournalismus an, der dann bis 1896 nach Radu eine Phase der Politisierung und anschließend eine Phase der Professionalisierung des Finanzjournalismus folgte. Vorgeschaltet ist ein relativ knappes Kapitel, das sich mit der Zeit vor 1850 befasst. Für diese Zeit konstatiert Radu, dass die Verbreitung von Finanznachrichten im Wesentlichen noch nicht "Teil des journalistischen Feldes" gewesen sei, sondern noch in den Händen von "professionellen Marktakteuren wie etwa Maklern und Bankiers" gelegen habe. Dem ist im Wesentlichen zuzustimmen, auch wenn es punktuell durchaus bereits Ansätze zu einem Wirtschaftsjournalismus gegeben hat. Immerhin trug die "Rheinische Zeitung" den Untertitel "Für Politik, Handel und Gewerbe" und besaß in dieser Hinsicht Vorläufer, die mehr Öffentlichkeit für die Vertretung wirtschaftlicher Interessen forderten. Aber insgesamt ist gewiss richtig, dass sich in den 1850er Jahren mit der Entstehung einer Reihe von explizit so betitelten Börsenzeitungen die Finanzkommunikation grundlegend veränderte und sich erst jetzt ein Finanzjournalismus tatsächlich herausbildete. Radus Behauptung allerdings, dass im Unterschied zum politischen Journalismus "Objektivität und Unparteilichkeit [...] von Anbeginn als Qualitätsnormen finanzjournalistischer Kommunikation" (64) firmierten, ist etwas heikel. Tatsächlich heißt es im Gründungsprospekt der Börsen-Correspondenz von 1856, dass man "den unparteiischen Standpunkt eines gewissenhaften Beobachters" einnehmen wolle. Doch ob sich dies bereits als Bekenntnis zu journalistischer Unabhängigkeit interpretieren kann, erscheint fraglich. Denn dieser Gründungsprospekt erschien, wie Radu selbst zeigt, bevor es den Beruf des Finanzjournalisten tatsächlich gab und der Weg zur Formulierung eines professionellen Selbstverständnisses noch recht weit war.
Wie Radu selbst sehr eindrücklich und überzeugend zeigt, kam es immer wieder zu kleineren und größeren Skandalen rund um den Börsenjournalismus, bei dem es um die Frage einer allzu großen Nähe der Journalisten zum Finanzsektor ging. Sehr ausführlich setzt sich Radu etwa mit dem sog. "Gründungsschwindel" auseinander, als nach dem Börsenkrach von 1873 offenbar wurde, in welchem Maße die Finanzpresse aufs Engste mit der Finanzwelt selbst verbunden war, Spekulanten und Gründer sich selbst als "Handelsjournalisten" betätigten und von einer Trennung zwischen Journalismus und offener oder verklausulierter Werbung kaum die Rede sein konnte. Radu betont zwar zu Recht, dass ein erheblicher Teil der Kritik antisemitisch motiviert und durchsetzt war - unverkennbar etwa in Otto Glagaus populärer Schrift über den "Börsenschwindel" - und dass "zwischen Akteuren des Finanzsektors und der Presse nicht pauschal ein Abhängigkeits- oder Subordinationsverhältnis bestanden haben" musste. (145) Aber Radu macht auch deutlich, dass die Interessensvermischung sich keineswegs nur auf Einzelfälle bezog, so dass sich hier letztlich schon von einem systemischen Problem sprechen lässt. Das zeigt sich auch daran, dass sich, wie Radu betont, "die Akteure des finanzpolitischen Feldes [...] als unfähig erwiesen", den Herausforderungen zu begegnen, die sich im Zusammenhang mit dem sogenannten "Gründungsschwindel" gezeigt hatten.
Gleichwohl markiert der Gründerkrach für Radu eine wichtige Zäsur, da sich nun die Politik verstärkt mit dem Finanzjournalismus befasste und nach Regeln suchte, um den Fehlentwicklungen entgegenzuwirken. Radu zeigt allerdings auch, dass sich so schnell nichts Grundlegendes änderte. Die Verschränkung von Finanzjournalismus und Finanzwirtschaft blieb weiter eng und die Frage, aus welchen Motiven bestimmte Papiere zum Kauf empfohlen wurden oder nicht, für das Publikum kaum erkennbar. Erst nach einer ganzen Reihe weiterer Fälle, in denen die bewusste Irreleitung des Publikums offenbar wurde, erfolgt schließlich Anfang der 1890er Jahre die Einsetzung einer Börsenenquetekommission, deren Beratungen schließlich in das Börsengesetz von 1896 mündeten. Radu betont allerdings zu Recht, dass die Bedeutung des Gesetzes weniger darin lag, dass nun etwa durch Staat und Justiz in die Entwicklungen eingegriffen worden wäre als vielmehr darin, dass die Presse bemüht war, die Glaubwürdigkeit des Finanzjournalismus zu erhöhen.
Die Zeit nach dem Börsengesetz sieht Radu dann gekennzeichnet durch Versuche der "finanzjournalistischen Akteure", sich von der Finanzwirtschaft zu emanzipieren und hier - zumindest in der Außendarstellung - die Distanz deutlicher werden zu lassen. Für Radu hängt diese Entwicklung mit einer zunehmenden Professionalisierung des Finanzjournalismus zusammen, also dem Versuch, das eigene journalistische Feld klarer nach außen abzugrenzen und sich einer bestimmten Selbstregulierung mit Blick auf journalistische Standards zu unterwerfen. Radu greift hier den Begriff der informellen Professionalisierung auf, der auch schon für den Journalismus insgesamt Verwendung fand. Er betont allerdings auch, dass die journalistische Selbstinszenierung als "Anwalt der Öffentlichkeit" sich "nur wenig mit der Wirklichkeit" deckte (337). Dies ist ohne Zweifel richtig, allerdings hätte es sich angeboten, gerade hier und auch an anderen Stellen, den Finanzjournalismus noch etwas mehr in die Entwicklung des Journalistenberufs insgesamt einzuordnen. Hier hätte sich zudem eine stärkere sozialgeschichtliche Untermauerung der Befunde angeboten. So hätte sich möglicherweise noch genauer zeigen lassen, inwieweit die von Radu konstatierte "Professionalisierung" auch damit verbunden war, dass zunehmend tatsächlich Journalisten und nicht mehr, wie möglicherweise zuvor, Personen diese Tätigkeit ausübten, die aus dem Finanzsektor selbst stammten. Hier hätte sich - wie für den Journalismus insgesamt - der Begriff der Professionalisierung auch noch etwas schärfer von dem der einfachen "Verberuflichung" abgrenzen lassen. Auch die Frage danach, inwieweit sich im Bereich des Finanzjournalismus ein spezifisches journalistisches Selbstverständnis herausbildete oder dieses eher als Variante eines übergreifenden journalistischen Selbstverständnisses zu verstehen wäre, hätte sich hier noch vertiefen lassen.
Insgesamt kann aber kein Zweifel bestehen, dass Radu eine beeindruckend quellengesättigte, gut durchargumentierte und sehr gut lesbare Studie vorgelegt hat, die das Wissen über die Etablierung des Finanzjournalismus auf ganz neue Beine stellt. Es bleibt zu wünschen, dass vergleichbare Arbeiten sowohl über die Folgezeit als auch über andere Zweige des Journalismus entstehen.
Jörg Requate