Thomas Kielinger: Kleine Geschichte Großbritanniens, München: C.H.Beck 2016, 287 S., 13 s/w-Abb., ISBN 978-3-406-68953-6, EUR 14,95
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Kann man die Geschichte Großbritanniens nach dem "Brexit" noch genauso schreiben wie bisher? Auch wenn die Publikation des Journalisten und Autors Thomas Kielinger vor der britischen Abstimmung über den Verbleib in der Europäischen Union erschien, scheint die Frage nach dem großen Bruch in der historischen Erzählung über das Vereinte Königreich durch den zu besprechenden Band hindurch. "Was, wenn die Gegenwart einen Grad der Unordnung erreicht hat, dass auch das Studium der Geschichte nur wenig hilft, die Wirrnis des Heute zu entflechten" (9)? Haben sich Erfahrungsraum und Erwartungshorizont zu weit auseinanderentwickelt, um historisch über die Probleme der Gegenwart sprechen zu können? Die Antworten, die Kielinger auf etwas mehr als 260 Textseiten gibt, sind abwartend und abwägend. In vielen Teilen eine Neuauflage seines Bandes aus der Reihe "Die Deutschen und ihre Nachbarn" aus dem Jahr 2009 eröffnet ein Einleitungskapitel unter dem Titel "Im Taumel der Gegenwart" die Neufassung mit vielen aktuellen Fragezeichen. Plötzlich scheint alles möglich und nur wenig vorhersehbar. Wieviel Bedeutung bleibt der Geschichte in einem Land, in dem ihr immer ausgesprochen viel Gewicht zugemessen wurde?
Die nachfolgenden vierzehn, nach Themen geordneten Kapitel durchziehen verschiedene Strategien, mit diesem Problem umzugehen. Zum einen finden sich in dem Text Analogien zur Gegenwart, von denen einige mehr überzeugen als andere. Der Earl of Shaftesbury lässt sich durchaus als der erste moderne Wahlkämpfer (80) beschreiben. Ob es hilfreich ist, John Locke einen Kommentar zur Finanzkrise von 2007 zu unterstellen (92), wäre zu diskutieren. Die puritanischen Verbote von Pferderennen, Hahnenkämpfen, Tanz und Schauspiel als eine "Frühform des Talibanismus" (75) zu bezeichnen, verwirrt allerdings mehr, als dass es erklärt.
Hinzu kommen Verweise auf das Fortwirken von Geschichtsbildern. Dass der französische Präsident Nicolas Sarkozy bei einem Staatsbesuch in London im März 2008 hervorhob, wie viel Bedeutung Großbritannien ökonomischen Prinzipien, "dem Unternehmer, dem Kaufmann" entgegenbringe, lässt sich ohne große Schwierigkeiten in den Diskurs über die "nation of shopkeepers" einordnen (101). Und die deutschen Anglomanen des 18. Jahrhunderts böten sich an, so Kielinger, das Großbritannien der Gegenwart zu verstehen (106), etwa in Bezug auf den rüden Ton, der bereits vor zweihundert Jahren gegenüber Regierung und Krone eingeschlagen wurde. Einiges ist zugunsten einer solchen Interpretation zu sagen, auch wenn der Verdacht nicht ganz wegzuwischen ist, dass sich der Autor selbst in dieser Tradition versteht. Ein Kenner Großbritanniens ist er ohne Frage.
Die Verweise auf das Fortwirken historischer Traditionen gehören allerdings nicht mehr in die Darstellung der Unsicherheiten über die Zukunft der Geschichtswissenschaft. Vielmehr erscheint nun eine optimistische Whig-Interpretation zu dominieren. Dass die Revolution von 1688 kommen musste - "Es konnte keine andere Lösung als diese geben" (76) - ist nach den neueren Arbeiten vor allem von Steve Pincus überholt. Aber ein Forschungsbericht soll die Publikation sicher nicht sein. Insellage, Cricket und Empire werden vielmehr zu einem flüssigen Narrativ verbunden, in dem große chronologische Sprünge - von Alfred dem Großen bis zum "Harry Potter Jahrzehnt" (30) Tony Blairs - gemeistert und die verschiedenen Stränge zu einer eleganten und durchaus kritischen Erzählung von Freiheit und Bürgerrechten, Parlament und Klassengesellschaft verbunden werden.
Am interessantesten ist der Band dort, wo er Grundsätzliches anspricht. Wirkte das Selbstverständnis des englischen "case law" in die europäische Einigungsdebatte hinein? Wie sichtbar ist die Klassengesellschaft in Großbritannien noch (oder schon wieder)? Und wird durch die steigende Armut nicht an der Grundüberzeugung der Briten gerüttelt, dass das eigene Reihenhaus samt Garten zur britischen Identität gehört? Auch hier, so liest man an vielen Stellen, stoßen britische Traditionen zunehmend auf Widerstände. So scheint die Terrorbedrohung dem britischen Humor eine Grenze gesetzt zu haben. Europäische Binnenmigration und Flüchtlingskrise fordern die Freizügigkeit heraus, für die der britische Staat im 19. und 20. Jahrhundert bekannt war.
Es lässt sich darüber streiten, ob das, was Zeitgenossen schon im 17. Jahrhundert mit Nationalcharakter bezeichnet haben, in der historischen Realität jemals existierte. Doch die Vorstellung davon scheint in Großbritannien noch nie so stark in Frage gestellt worden zu sein wie heute. Kielingers Text ist in dieser Hinsicht mehr als eine konzise Diskussion dieser Entwicklung. Vielmehr kann der Text auch als Zeitzeugnis eines England- oder Großbritannienkenners gelesen werden, der sich über die Folgen der Krisen des 21. Jahrhunderts so wenig im Klaren ist wie andere Zeitgenossen, diese Unsicherheit aber mit großer Umsicht formuliert und anschaulich als Problem darstellt.
Torsten Riotte