Ivan Lefkovits (Hg.): »Mit meiner Vergangenheit lebe ich«. Memoiren von Holocaust-Überlebenden, Berlin: Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag 2016, 16 Bd., 981 S., 15 s/w-Abb., ISBN 978-3-633-54277-2, EUR 79,00
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"Wie kann ich das alles beschreiben? Wie kann man Hunger, Demütigung, Schläge, Angst, Schmutz, alle die Grausamkeiten, die ganze Atmosphäre schildern? Es ist kaum möglich in Worte zu fassen, wie ich mich fühlte, als ich Läuse hatte, die Sterbenden, Erschlagenen, gesehen habe? Wie kann man den beißenden Gestank des schwarzen Rauchschwadens von brennenden Leichen in Auschwitz ausdrücken?" (Bd. 3, 7)
Das fragt sich Peter Lebovic im Vorwort seines "Erinnerungen aus dem längsten Jahr meines Lebens" betitelten Berichts, der Teil einer fünfzehnbändigen Edition von Memoiren Holocaust-Überlebender ist. Der Herausgeber Ivan Lefkovits hat selbst die Lager Ravensbrück und Bergen-Belsen durchlitten. In dem Band, der seine eigene Geschichte dokumentiert, berichtet er, wie er nach dem Krieg zunächst nichts über das Schicksal seines Bruders und seines Vaters wusste, seine Mutter nicht mit ihm darüber sprach und es dann ausgerechnet der Lehrer in seiner Heimatstadt war, der ihn Monate nach Kriegsende den Mitschülern so vorstellte: "Das ist Ivan Lefkovits, euer neuer Schulkamerad. Sein Bruder und Vater sind im Krieg umgekommen." (Bd. 8, 10).
Wie entstand diese wertvolle Edition? In der "Kontaktstelle für Überlebende des Holocaust" in der Schweiz kam 2006 der Gedanke auf, dass sie, die Überlebenden, unbedingt noch Zeugnis ablegen müssten über das Erlebte, bevor ihre Kräfte sie verlassen würden. Eine kleine Gruppe der Mitglieder war dazu bereit, und es fanden sich Unterstützer des Projekts. Da für die wenigsten der Überlebenden Deutsch die Muttersprache war, stellte das Institut für Jüdische Studien der Universität Basel jedem der Autoren bei Bedarf Studierende als Lektoren zur Seite. Zunächst erschien eine erste Serie von Berichten als Privatdruck, der schnell vergriffen war. Als Ivan Lefkovits Jahre später Gerhard Richter traf, sagte ihm dieser die Gestaltung des Covers für eine Neuauflage zu. Nun ist auf jedem der 15 Bücher ein Ausschnitt aus einem großformatigen Birkenau-Zyklus des Künstlers zu sehen.
Die Einzelbände sind mitunter eher dünne Hefte, doch sollte die Vielfalt der Beiträge dadurch betont werden, dass sie eben nicht zusammengefasst werden. Dies ist gelungen. Die Berichte sind sehr unterschiedlich, so wie die sich erinnernden Menschen eben auch sehr verschieden sind, auch wenn die Monstrosität der erlittenen Schicksale ähnlich scheint. Die Geschichten von Nina Weilová, Ernst Brenner, Peter Lebovic, Jake Fersztand, Sigmund Baumöhl, Gábor Hirsch, Gábor (Neuman) Nyirö, Ivan Lefkovits, Arnost Schlesinger, Hana und Hanuš Arend, Andreas Sás, Klaus Appel, Fabian Gerson, André Sirtes, Christa Markovits und Éva Alpár sowie ihrer Familien sind dokumentiert und der Anonymität entrissen.
Hier entsteht ein Panorama jüdischen Lebens in Europa vor dem Zweiten Weltkrieg, aber vor allem ein Eindruck des Ausmaßes der Vernichtung. Die Berichte handeln vom Leben und Sterben der europäischen Juden in vielen Ländern. Die Überlebenden beschreiben ihre Odyssee durch mehrere Orte und Konzentrationslager, eine Odyssee, die mit dem Kriegsende keineswegs beendet war. Gábor (Neuman) Nyirö schreibt in seinem Vorwort: "Es gibt immer noch Nächte ohne Schlaf und in diesen Nächten spielen sich die Episoden der Vergangenheit wie ein Film ab. Wenn ich einschlafe, träume ich oft von der Vergangenheit - es gibt kein Entrinnen." (Bd. 7, 7). Bedrückend sind auch die oft seitenlangen Aufzählungen des Schicksals von Familienmitgliedern. In vielen Fällen waren die Verfasser die einzigen Überlebenden der großen Familien, deren Geschichte zu Beginn der Bände noch erzählt wurde.
17 Überlebende des Holocaust haben hier ihre Erinnerungen aufgeschrieben. Einige der Verfasser sind in der Zwischenzeit bereits gestorben. An ihre Geschichte und die ihrer Familien wird in dieser schönen Edition eindrucksvoll erinnert.
Andrea Löw