Birgit Hofmann: Der "Prager Frühling" und der Westen. Frankreich und die Bundesrepublik in der internationalen Krise um die Tschechoslowakei 1968 (= Diktaturen und ihre Überwindung im 20. und 21. Jahrhundert; Bd. 10), Göttingen: Wallstein 2015, 472 S., 5 s/w-Abb., ISBN 978-3-8353-1737-6, EUR 39,90
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Ist der Kalte Krieg wirklich schon Geschichte? Wie definieren sich jene Staaten, die sich "dem" Westen zugehörig fühlen? Was hält sie zusammen? Die tagespolitische Aktualität bildet den Hintergrund zur Lektüre von Birgit Hofmanns im Wallstein Verlag erschienener Studie über die Rolle Frankreichs und der Bundesrepublik im "Prager Frühling". Ausgehend von der politischen Krise, die sich im Sommer 1968 in der und um die Tschechoslowakei entwickelte, analysiert Birgit Hofmann "vergleichend und multiperspektivisch" (12/13) die spezifischen Reaktionen Frankreichs und der Bundesrepublik auf die Prager Ereignisse, fragt nach deren Rezeption in den beiden Ländern, nach möglichen Handlungsspielräumen sowie nach der "Durchlässigkeit" (43) der Blöcke und dem Einfluss der osteuropäischen Ereignisse auf die Politik der westlichen Staaten.
Das Ziel der als Dissertation an der Universität Freiburg entstandenen Arbeit ist eine Analyse der "Gesamtkonstellation der Krise" (43). Dafür schlägt Birgit Hofmann einen Ansatz vor, der über ihr Fallbeispiel hinausweisen soll. Sie entwickelt ein methodisches Instrumentarium, in dessen Mittelpunkt der Begriff "Krise" und deren Akteure stehen. An Krisen-Literatur mangelt es der jüngsten Forschung nicht, doch konstatiert die Autorin das Fehlen eines Ansatzes, "der Akteure in die Untersuchung einbezieht, die lediglich potenziell, jedoch nicht direkt Teil der Krise sind" (37). Sie reagiert auf diese Leerstelle mit ihrem eigenen Begriff des "Referenzakteurs", unter den sie die westlichen Staaten fasst. Dem westlichen "Referenzsystem" stellt die Autorin das östliche "Krisensystem" (37) gegenüber, und zwar "im Sinne einer Referenz, des potenziellen Eingreifens und der wechselseitigen ideologischen Bezugnahme", gleichwohl "die eigentliche Krise zunächst nicht zwischen diesen beiden Systemen stattfindet" (41).
Theoretisch orientiert an Michael Brecher und Patrick James unterscheidet die Autorin mit "pre-crisis, crisis and post-crisis" (48) drei Phasen, denen auch die Chronologie der Studie folgt. Nach der dichten und theoretisch vorbereitenden Einleitung verortet Hofmann zunächst die französische und westdeutsche Ostpolitik seit den 1950er Jahren zwischen "frühen Ostblockkrisen und Détente" (Kap. 2). Vor deren Hintergrund habe sich zwar eine "westdeutsch-französische ostpolitische Kooperation" (115) entwickelt. Deren langfristiges Ziel einer Diffusion zwischen den beiden Blöcken sei jedoch durch ein deutsch-französisches Ungleichgewicht hinter den Kulissen konterkariert worden, sodass der Ausbruch der Krise 1968 die deutsch-französischen Differenzen offen zu Tage treten ließ. Die Bundesrepublik erkannte, dass es Frankreich in erster Linie um die Wahrung eigener Interessen und um eine hegemoniale Sprecherposition in Westeuropa ging, auch wenn offiziell noch im Frühjahr 1968 deutsch-französische Harmonie gezeigt wurde. Zugleich sendete der "dominante Referenzakteur USA" auch "ambivalente Signale" (210), was die ostpolitische Strategie der Großen Koalition zusätzlich erschwerte. Die westdeutsche Ostpolitik geriet in ein "Paradoxon", wie die Autorin am Ende des dritten Kapitels resümiert, denn ihr einst auf "Blockdiffusion" ausgerichteter Erfolg wurde zugleich ihr "Misserfolg". Die Krise der Tschechoslowakei als Symbol einer "Auflösung der Blockstrukturen" konnten sich die westlichen Staaten angesichts der internen Spannungen als "Offensive von Seiten des Ostblocks nicht 'leisten'"(217). Dass "der" Westen - die Autorin setzt bewusst die Anführungszeichen - nicht nur in die Krise verwickelt, sondern Teil der Krise war, sei mit dem als "Überraschung und Schock" (218) erlebten sowjetischen Einmarsch in die Tschechoslowakei offensichtlich geworden.
Mit dem Bruch des Völkerrechts durch die Intervention liegt für die Autorin im Sinne ihres methodischen Bezugsrahmens ein "Appell an das Referenzsystem" (331) des Westens vor, dessen Eingreifen ausbleibt - auch eine irritierte Reaktion auf das Ausbleiben von Widerstand seitens der Zivilbevölkerung, erhellend hierzu das Zitat aus den Quellen des amerikanischen National Security Council: "There is not a great deal we can do if they don't" (243).
Bleibt also für den Westen der "Prager Frühling" nicht mehr als eine als moralisch schwierig erlebte Zurückhaltung? Ausgehend von dem Anspruch, die Ereignisse in ihrer Gesamtheit zu erfassen, liegen die "Konsequenzen der Krise" (Kap. 5) für die Autorin dann auch nicht nur ausschließlich im östlichen Europa. Vielmehr seien die Prager Ereignisse ein "Katalysator" für die deutsch-französischen ostpolitischen Differenzen geworden - Charles de Gaulle sah die Bundesrepublik als "heimliche Hauptfigur der Krise" (346) -, die schließlich zu einer gewandelten diplomatischen Rolle der Bundesrepublik geführt hätten. Dies macht Hofmann an drei Punkten fest. Erstens sei die Bundesrepublik aufgrund wachsender wirtschaftlicher und diplomatischer Bedeutung und trotz des Status als "Referenzakteur" in das Zentrum der Krise gerückt, die, zweitens, zugleich die "Schwäche der europäischen Kooperation" aufgezeigt habe. Drittens: In dieser Situation wiederum sei der Bundesrepublik nicht nur von anderen Akteuren die Fähigkeit zugeschrieben worden, auf europäischer Ebene zu kooperieren. Vielmehr habe sowohl die europäische Kooperation als auch mit der NATO eher den außenpolitischen Zielen der Bundesrepublik entsprochen.
Hofmann kommt zu folgendem Fazit: In der longue durée habe die veränderte Rolle der Bundesrepublik ein "gleichberechtigteres deutsch-französisches Verhältnis" (429) vorbereitet. "Ausdruck und möglicherweise auch Folge" ist für Birgit Hofmann die Ostpolitik Willy Brandts als "Symbol eines Endes der unmittelbaren Nachkriegszeit" (411). Diese neue Rolle und Dynamisierung sei jedoch noch vor Brandts Kanzlerschaft, nämlich "im Zäsurjahr 1968 aufgeschienen".
Mit dieser Zäsursetzung bekommt die durch die 68er-Bewegung mythisch aufgeladene Jahreszahl 1968 eine Bedeutung, die ihr aus kulturgeschichtlichem Blickwinkel und mit Bezug auf die Protestbewegung durch eine Einordnung in die langen Sechzigerjahre abgesprochen wurde. Dass die Autorin die "unterschiedliche Wirkung der Studentenrevolten 1968 auf die Außenpolitik" (208) aus praktischen Gründen nicht ausführen konnte, ist angesichts ihrer dichten und quellengesättigten Studie nachvollziehbar. Es stellt sich jedoch die Frage, inwieweit sich der Blick auf die 1960er Jahre verändert, wenn man die 68er-Bewegung in der Krise nicht nur als "Hintergrundfaktor" (208) begreift, sondern in den Kreis der "Referenzakteure" miteinbezieht. Birgit Hofmann bleibt einer diplomatiegeschichtlichen Perspektive verhaftet, die nicht-staatliche Akteure außen vor lässt. Diese Feststellung ist weniger Kritik denn Anregung, wenn man "1968" mit Immanuel Wallerstein als "revolution in and of the world-system" [1] begreift. Gerade die sich für das 50. Jubiläum von "1968" ankündigende globale Perspektive [2] wirft die Fragen nach dem Zusammenspiel zwischen staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren auf. Dies bietet die Chance, die engführende Sicht auf die Proteste als Bewegungen gegen den Staat zu überwinden. Mit ihrer deutsch-französischen Geschichte des Prager Frühlings liefert Birgit Hofmann auf jeden Fall einen wichtigen Baustein, um den Blick auf den Protest und die globale Konstellationen seit den 1960er Jahren neu zu bewerten.
Anmerkungen:
[1] Immanuel Wallerstein: 1968 - Revolution in the world-system: Theses and queries, in: Theory and Society, 18 (1989) No. 4, 431-449.
[2] Siehe hierzu den ersten Impuls durch die Tagung des Deutschen Literaturarchivs Marbach im Mai 2016: A Tale of 100 Cities. Ideas, Conflicts and Revolts in the 1960s. Internationale Tagung, 02.05.2016 - 03.05.2016 Hannover, in: H-Soz-Kult, 17.04.2016, www.hsozkult.de/event/id/termine-30808 [1.10.2016]
Silja Behre