Silja Behre: Bewegte Erinnerung. Deutungskämpfe um "1968" in deutsch-französischer Perspektive, Tübingen: Mohr Siebeck 2016, XI + 421 S., ISBN 978-3-16-154166-7, EUR 59,00
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Knapp ein halbes Jahrhundert nach den Ereignissen rund um "1968" nimmt die Arbeit von Silja Behre deren Langzeitwirkungen in den Blick. Ihre 2016 veröffentlichte Studie "Bewegte Erinnerung. Deutungskämpfe um '1968' in deutsch-französischer Perspektive" basiert auf der 2014 im Rahmen eines Cotutelle-Verfahrens an der Universität Bielefeld und der Pariser Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales eingereichten Dissertation. Im Rahmen des Bielefelder Sonderforschungsbereichs "Das Politische als Kommunikationsraum in der Geschichte" legt die Autorin eine konsequent transatlantische und darüber hinaus methodisch elaborierte Verflechtungsgeschichte vor. Sie richtet sich an ein geneigtes Fachpublikum, das sowohl ereignisgeschichtlich an "1968" interessiert ist als auch die zahlreichen Deutungskämpfe sogenannter "Erinnerungsunternehmer" (3) betrachtet wissen will.
In den fünf Hauptkapiteln werden einerseits diskursive Bandbreiten aufgefächert, andererseits Konjunkturen, Formen und Schwerpunkte der Erinnerung an "1968" im Kontext der zeitgenössischen Auseinandersetzungen nachgezeichnet. Im ersten Kapitel werden die unmittelbar auf die Ereignisse folgenden Wortmeldungen der Akteure selbst sowie zeitgenössischer Beobachterinnen und Beobachter aus Wissenschaft und Öffentlichkeit in ihren gegenseitigen Bezügen analysiert. In den beiden folgenden Kapiteln rekonstruiert Behre den Generationenbegriff in erhellender Weise und kontrastiert die autobiographischen mit den wissenschaftlichen Rekonstruktionen der Ereignisse in den 1980er Jahren. Außerdem ordnet sie "1968" in die longue durée der Erinnerung an 200 Jahre französischer Revolution ein. Die Analysekategorie der Zeitlichkeit spielt im Folgenden eine wichtige Rolle, wenn disparate Resümees und Rückblicke der ehemaligen Protagonistinnen und Protagonisten herausgearbeitet werden. Zum Abschluss fasst die Autorin die Ergebnisse und Thesen zu den Erinnerungskämpfen der 68er-Bewegung pointiert zusammen.
Insgesamt präsentiert Behre eine umfangreiche und detaillierte Untersuchung, die in ihrer Diskursdarstellung und -analyse die zentralen Akteurinnen und Akteure und ihre Veröffentlichungen in den Blick nimmt. Dadurch können die Leserinnen und Leser den Kontroversen um die Aufarbeitung und Schlussfolgerungen aus den Geschehnissen rund um "1968" aus nächster Nähe folgen. Wesentliche Prämisse der Arbeit ist die untrennbare Verflechtung zwischen Ereignis- und Erinnerungsgeschichte, was sich im Untersuchungszeitraum von den späten 1960er bis in die 1990er Jahre niederschlägt.
Die Studie basiert auf insgesamt vierzig Tages-, Wochen- und Bewegungszeitschriften, die zu etwa zwei Dritteln aus der Bundesrepublik und zu einem Drittel aus Frankreich stammen. Behre analysiert sie tiefgehend, um die Konstruktionsprozesse und Deutungskämpfe um "1968" zu rekonstruieren. Der Fokus darauf ergibt insofern Sinn, als ein Zusammengehen von "Lebens- und Leseerfahrung" (64) für den Zeitraum und das Milieu charakteristisch war. Dadurch gelingt es der Autorin, sowohl transnationale Bezüge als auch nationale Eigenheiten offenzulegen. Besonders eindrücklich werden diese beiden Facetten in der Betrachtung der französischen Nouvelle Philosophie, dem umstrittenen Versuch einer philosophischen Einbettung der Ereignisse und Forderungen der Protestbewegung. Ein Äquivalent fehlte auf bundesrepublikanischer Seite, sodass französische Denkerinnen und Denker auch zum Referenzpunkt der westdeutschen Debatte wurden. Um diese innere Verflechtung der Ereignisse diesseits und jenseits des Rheines zu beleuchten, wählt die Verfasserin eine doppelsträngige Erzählweise der Erinnerungskämpfe in Westdeutschland und Frankreich, die gleichermaßen plausibel wie in ihrer Konsequenz beispielhaft ist.
Ein herauszuhebender Befund ist die Dekonstruktion des vermeintlich klaren Begriffs der "Generation 68". Mit Bourdieu erklärt Behre, dass "durch den Akt der Benennung die Existenz des Benannten postuliert wird", das allerdings nicht als "Alterskohorte, sondern als Wahrnehmungskategorie, um die gekämpft wurde" (138) zu verstehen sei. Behre legt luzide dar, dass der Konstruktionsprozess des in den Quellen omnipräsenten Generationsbegriffs sowohl auf deutscher wie auf französischer Seite als ein relationaler Prozess zu begreifen ist, der in der diachronen Abgrenzung zu den Vorgängergenerationen besteht. Ausgelöst durch die Veröffentlichung der zweibändigen Zusammenstellung Génération von Patrick Rotman und Hervé Hamon entspann sich eine Debatte um den Generationenbegriff. Diskursanalytisch umstritten bleibt dabei, inwiefern der Generationenbegriff zeitgenössisch als "alternativer Adelstitel" (158), Analysekategorie oder als zweckmäßige, politisch motivierte Zuschreibung verwendet wurde. Bedauerlich ist, dass diese Kontroversen in dem Buch nicht durchgängig behandelt werden, was sicherlich auf die Fluidität des Gegenstandes zurückzuführen ist.
Die Arbeit bereichert neben der geschichtswissenschaftlichen Forschung auch sozialwissenschaftliche Debatten jenseits der Bewegungsforschung, beispielsweise die Auseinandersetzung um eine zunehmende Individualisierung innerhalb postmoderner Gesellschaften. [1] Aus dem Postulat, das Private sei politisch, leitete der französische Philosoph Gilles Lipovetsky eine Privatisierung des Politischen ab. Als ungewolltes, aber mittelbares Resultat von "1968" identifizierte er eine gesellschaftlich um sich greifende "Privatisierung, Erosion sozialer Identitäten, Abkehr von Ideologien und der Politik [und] Destabilisierung der Persönlichkeiten". Er ordnete diese Entwicklung "als Auftakt neuartiger Konflikte der Industriegesellschaft" (178) in eine longue durée der Industriegesellschaft ein.
Historiographisch besonders spannend ist die von der Autorin aufgespürte zeitliche Überlappung zwischen dem bicentenaire auf französischer, dem Historikerstreit auf deutscher und den Diskussionen um eine Historisierung von "1968" aufseiten der Protestbewegung. Behre gelingt es anhand dreier Beobachtungen die Fäden dieser zunächst voneinander unabhängig scheinenden Debatten zusammenzuführen. So wurde von Protagonistinnen und Protagonisten der Auseinandersetzung wie Jürgen Habermas oder Luc Ferry vor der Folie der Französischen Revolution und des Nationalsozialismus in den späten 1980er Jahren eine Totalitarismusdebatte geführt und die Frage nach angemessenem Gedenken gestellt. Im Unterschied zu den oben skizzierten Erinnerungskämpfen handelte es sich dabei allerdings um eine wissenschaftliche Auseinandersetzung, die Akteure der 68er-Bewegung "blieben still." (342).
Im Schlusskapitel fasst Behre die Erkenntnisse auf dreierlei Ebenen zusammen: Zeitwahrnehmung, kognitive Orientierung und Sprecherrollen. Zentral für die temporale Ebene war die Abkehr einiger Protagonistinnen und Protagonisten von der Idee, Geschichte sei gestaltbar, und der Widerspruch jener, die an den revolutionären Zielen festhalten wollten. Diese Spannung verschob den Meinungsstreit um die Zukunft, bei der nun nicht mehr das Wie, sondern vielmehr das Ob zur Disposition stand. Eng damit verwoben war das Narrativ einer politisch gescheiterten, aber kulturell erfolgreichen Bewegung. Diejenigen, die an eine Fortsetzung der Auseinandersetzung glaubten, lehnten es aber vehement ab, da damit eine Art Schlussstrich gezogen werde.
Personell und organisatorisch eng mit diesen Debatten um die Zukunftsfähigkeit verwoben waren die "um die legitime Aktions- und Organisationsstrategie" (356). Der Widerstreit von Spontaneistinnen und Spontaneisten, Maoistinnen und Maoisten, Trotzkistinnen und Trotzkisten, Gewerkschafterinnen und Gewerkschaftern und Intellektuellen zieht sich durch das Buch. Wenngleich diese Vielfalt die Lektüre teils hohe Anforderungen stellt, lässt sie die Diskussionen um den richtigen Weg detailreich wiederaufleben. Daraus wiederum leitet sich die Auseinandersetzung um legitime Sprecherrollen der Erinnerungsakteure ab, die sich zwischen Negation und Abgrenzung auf der einen, und der rhetorischen Fortsetzung des Kampfes auf der anderen Seite unversöhnlich gegenüberstehen.
Zusammenfassend handelt es sich bei der Studie um eine voraussetzungsvolle Arbeit, die streckenweise von den Grabenkämpfen um das richtige Erinnern überwältigt zu werden droht. Die Autorin fängt diese allerdings durch strukturierende Ebenen und Thesen immer wieder ein. Das Buch trägt also zum besseren Verständnis der Protestbewegung sowie der deutschen und der französischen Gesellschaft seit den 1970er Jahren bei und ist in seiner doppelsträngigen Erzählweise als transnationale Vorreiterstudie zu empfehlen. Dem Plädoyer der Autorin, den Nachgeschichten von Protestereignissen größeren Raum in der Forschung zu geben, ist uneingeschränkt zuzustimmen. Auf dem Feld der Erinnerungsgeschichte bietet sich die Studie als methodische Referenz für nachfolgende Forschungen an, hat sie doch die spezifische Zeitwahrnehmung von Protestbewegungen, deren dynamische Struktur sowie die sich daraus ergebenden Fragen an die (Selbst-)Positionierungen der Akteure, zugespitzt auf die Frage "Wer spricht wann?" (373), beispielhaft herausgearbeitet.
Anmerkung:
[1] Vgl. Ulrich Beck / Elisabeth Beck-Gernsheim (Hgg.): Riskante Freiheiten - Individualisierung in modernen Gesellschaften, Frankfurt/M. 1994.
Jonas Fischer