Rezension über:

Richard Hoppe-Sailer / Cornelia Jöchner / Frank Schmitz (Hgg.): Ruhr-Universität Bochum. Architekturvision der Nachkriegsmoderne, Berlin: Gebr. Mann Verlag 2015, 350 S., 29 Farb-, 230 s/w-Abb., ISBN 978-3-7861-2744-4, EUR 79,00
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Rezension von:
Christian Vöhringer
Stuttgart
Redaktionelle Betreuung:
Hubertus Kohle
Empfohlene Zitierweise:
Christian Vöhringer: Rezension von: Richard Hoppe-Sailer / Cornelia Jöchner / Frank Schmitz (Hgg.): Ruhr-Universität Bochum. Architekturvision der Nachkriegsmoderne, Berlin: Gebr. Mann Verlag 2015, in: sehepunkte 16 (2016), Nr. 12 [15.12.2016], URL: https://www.sehepunkte.de
/2016/12/28574.html


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Richard Hoppe-Sailer / Cornelia Jöchner / Frank Schmitz (Hgg.): Ruhr-Universität Bochum

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Als die Ruhr-Universität Bochum (RUB) 1965 ihren Lehrbetrieb aufnahm, war die Universitätsstadt südlich Bochums nur zu einem geringen Teil fertig, entsprechend ihrem Charakter einer Großstruktur mit eigener Feldfabrik. Zu Recht also feierte man 2015 das 50-jährige mit Akzent auf visionärer Hochschulplanung, auf Hochschulreform und bauwirtschaftlichen Fortschritt(sglauben) und nahm dies auch zum Anlass vorliegenden Buches. Das Meiste war 1965 noch Planungsstand oder Provisorium, zugleich war es, der eigenen Vorreiterrolle im Kampf gegen die "Bildungskatastrophe" bewusst, gut publiziert und seit dem Ideenwettbewerb 1962/63 auch breit öffentlich diskutiert und international wahrgenommen worden. Den Titel "erste Universitäts-Neugründung nach dem Krieg" kann man beschränkt auf NRW oder die universitäre Trabantensiedlung vergeben. Wegen des Schwerpunkts auf Einzelbauten, Freiraumplanung und Kunst am Bau ist der Gedanke erlaubt, dass dieses Bauvorhaben durch seine longue durée auch in 2025 oder 2034 seinen Fünfzigsten hätte feiern dürfen, eine Option, die in medias res einer ganzen Anzahl von Beiträgen dieses Sammelbandes als Werkmonografie führt, die die Zeitachse von Vorplanungen, Provisorien & Umnutzungen, Planänderungen und konzeptionellen wie technischen Weiterentwicklungen detailliert bearbeiten und so bis zur Eröffnung des Musischen Zentrums 1984 (281-288) führt. Das steht im Einklang mit der Begründung des Baudenkmals 2015, eingeleitet 2006, die Hans H. Hanke ausführlich in 10 Punkten von der Silhouette über Grünflächen, Kunstkonzept, Betoncharakteristik und Einzelbauten bis zum Umgebungsschutz darlegt (132-136); interessanterweise legt er mit 9. und 10. auch einen Plan vor, was vom nach 1984 Gebauten nicht denkmalswert, ja als störende Eingriffe in das Kulturdenkmal sogar zum Abriss empfohlen sei: die Ladenzeile und das Campus Center (136).

Das Buch gliedert sich in fünf Abteilungen mit 26 Beiträgen, die dieser komplexen Denkmalsbestimmung insgesamt zuarbeiten: "Grundstein", "Bildungsbau", "Materialität", "Kunst" und schließlich sieben Gebäudeporträts. Zeitzeugen-Interviews mit dem planungsbeteiligten Konstrukteur Fritz Eller über "Universität als Großstruktur" (79-86) und mit dem Architekturkritiker und -historiker Wolfgang Pehnt (143-147) zu Geschichte und Rezeption finden sich in den ersten beiden Abteilungen, ein Gespräch mit dem Landschaftsplaner Georg Penker überraschenderweise am Ende von "Materialität" (175-188, im Anschluss an Elisabeth Szymczyk über die Grünplanung der RUB, 165-174). Aber ja, die Gartengestaltung thematisiert den Beton als erstarrten flüssigen Stein in Kontrasten zu Vegetation und Wasserspielen in besonderer Weise, leider hat sie am stärksten unter funktionalen Verbesserungen als Nachverdichtungen gelitten. "Grundstein" bietet mit Beiträgen von Jörg Lorenz über die Standortfindung in Konkurrenz zu Dortmund (15-20), über den Ideenwettbewerb unter dem Leitmotiv der "Universitas durch Dichte" von Alexandra Apfelbaum und Frank Schmitz (59-77) und schließlich über die planungspolitischen Horizonte (landespolitischer) Hochschulsteuerung als Gesellschaftspolitik von Timo J. Celebi die wesentlichen Eckpfeiler der Vorgeschichte.

Eigentlich gehörte auch Klaus Jan Philipps Beitrag über "Beton im Hochschulbau" meines Erachtens in diese Reihe, weil seine Stuttgarter Beispiele wie er selbst schreibt noch zu jenen Einzelbauten als Ausdruck jeweiliger Fachkulturen gehören, mit denen die neue Typenplanung aus Gründen der Effizienz brechen wollte, steht aber im wörtlichen Sinn für die Abteilung "Materialität". Allerdings ist die RUB kein stringentes Beispiel für eine "Spezifik des Materials Beton" im Hochschulbau: Gerade dort zeigte sich, dass Stahltragwerke und Stahlbetonkonstruktionen bei fast identischem Entwurf austauschbar waren, Schnellbaufähigkeit wurde durch die fabrikmäßige Vor-Ort-Fertigung der Stahlbetondeckenplatten erreicht, das Modell und die ersten drei Scheibenhochhäuser waren Stahlskelettbauten (siehe Interview Eller, 81f. mit Abb. 2; im Gebäudeporträt von Olaf Gisbertz, "Institutsbauten", 238-245, leider nicht näher ausgeführt; vgl. aber auch Abb. 3, 133, "Ur-Modell"). Gewiss, dies alles ist dem Autor auch bekannt, zudem sei der "Planungsprozess [...] höher bewertet worden [...] als das Erstellen der Bauten selbst" (161). Ab hier ist eine Ehrenrettung gegen den abgründigen Beinamen Bauwirtschaftsfunktionalismus (Vulgär-Funktionalismus) keine einfache Sache mehr. Zwar mag es mit Max Bill Ästhetik durch Vorfabrikation geben ("trotz Vorfabrikation", 162), die Übernahme eines Rasters von 7,50 x 7,00m aus dem Industriebau war jedenfalls kein spezifischer Gewinn für die Bauaufgabe Universität, selbst wenn a posteriori die Auflösung der Blöcke durch horizontale F+R Balkone als gestalterische Absicht und ästhetischer Mehrwert beschrieben werden können. An erster Stelle allerdings sind sie bis heute Brandschutzerfordernis, um bei verrauchtem Flur in einen rauchfreien Brandabschnitt flüchten zu können.

Größere Bögen versuchen auch Cornelia Jöchner mit Beiträgen über die "räumliche Logik" der RUB und Dietrich Erben über "Konstruktivismus" (47-58) als Architektur, Politik und Wissenschaft der Zeit verbindendes (wissenssoziologisches) Konzept zu Lesarten der Gesamtplanung zu schlagen, die man als ikonologisch bezeichnen darf, weil beide zu inhärenten, das Werk mit seiner Zeit verbindenden Aussagen gelangen. Bei Erben ist die Chronologie vielleicht etwas aus den Fugen, Peter Berger und Thomas Luckmanns Klassiker Social construction of reality, den er zitiert, erscheint erst 1967 [1] und verschiedene frühere Konstruktivismen in der Geschichte der Architektur sehen entschieden anders aus als diese rationalistischen Gebäude. Prallt hier womöglich die Ideen- als Begriffsgeschichte unversöhnlich am schnellbaufähigen Flucht- und Rettungsbalkon ab und versöhnt sich erst wieder als Sozialkonstruktivismus mit den hybriden partizipativen Überformungen des universitären Typenbaus im beschaulichen Konstanz? [2]

Ohne Frage nehmen kompensatorische Umplanungen, Solitäre, Gartengestaltungen und Kunst-Ausstattungen weiten Raum im Kulturdenkmal RUB (seit 2015) ein. Die Kritik am Bauen mit Systemen ging Hand in Hand mit dem weiteren Ausbau, der darauf auch reagierte. [3] Die Universität Bochum als Kunstort und -sammlung verbindet sich seit ihren Gründungstagen mit dem Namen des Kunstwissenschaftlers Max Imdahl (1925-1988), der hier als Wissenschaftler, Kurator und Vermittler bleibende Impulse gab. Denkmalpflegerisch wegweisend ist insofern die Aufnahme der Kunst am Bau in das Gesamtdenkmal (Farb- und Kunstkonzept; Kunstwerke 133f.) und die exemplarische Erhaltung der Innenausstattung "seines Instituts" (Gebäude GA 2, zweites Stockwerk).

Innerhalb der jeweiligen Kapitel geben die Forscher in ihren Beiträgen ein plurales Bild von Architekturwissenschaft und ihren Rekonstruktionswegen und Fragemöglichkeiten wieder, man erfährt viel über Akteure und ihre Netzwerke. Dem Anlass gemäß prägt die positive Würdigung historische und überregionale Vergleiche, so im Beitrag von Kerstin Wittmann-Englert mit Bezügen zu Bauten von Mies van der Rohe, Kenzo Tange und Paul Rudolph, oder bei Hans H. Hankes Herleitung vom "Marburger System" (von Helmut Spieker); hier kann man anderer Meinung sein. Es verläuft ein schmaler Grat zwischen einem genealogischen Narrativ nobler Abstammung und dem Verlust von Spezifik, hier der industriezeitlichen Originalität, die als "serielle Ästhetik" im Kapitel Kunst von Annette Urban thematisiert und gegen "rein funktionalistische" Architektur abgesetzt, dann überwiegend als Kunst am Bau gewürdigt wird (203-217, zur A. 203f.). Wenn etwa der Bezug von Audimax auf Goetheanum in Dornach stimmte, so wäre doch der darin liegende Bruch mit dem Konzept serieller Ganzheit durch Gleichheit aller Teile eines Systems bei gleichzeitiger Schaffung einer symbolisch aufgeladenen geistigen Mitte diskussionswürdig und müsste die Aufmerksamkeit mindestens so stark auf die nicht ausgeführten frühen Entwürfe eines Hochschulforums in Ortbeton lenken, das noch ganz dem orthogonalen Schema folgte.

Gewiss, gerade bei Großprojekten weichen Grundkonzeption oder "Idee" häufig von der Ausführung ab, können vielleicht sogar als vorweggenommene offene Stellen gelten. Auch deshalb sind kunsthistorisch die Beiträge über die Gestaltung von Landschaft, Grünraum und Plätzen sowie über die Kunst am Bau besonders wichtig, weil sie die (bauwirtschafts-)funktionale Großstruktur überformen und humanisieren. Hier nimmt Annette Urban zu Recht die Auseinandersetzung darüber auf, inwieweit die Künstler in Auseinandersetzung mit der Architektur treten oder - Harald Szeemanns Formulierung für Atelier 5 - "Kunst als Opium" eingesetzt wird, schließlich war die künstlerische Gestaltung der Erschließungskerne zuerst die Beseitigung einer Fehlstelle dieser Architektur. Mit dem Archivwissen über unausgeführte Werke werden damalige Diskussionslinien verständlich, in die sich zunehmend eine zeichenhaft orientierende Funktion von Kunst am Bau gemischt hatte. Richard Hoppe-Sailers Beitrag (219-227) spannt den Bogen weiter in die Kunstlandschaft NRW und ihre Geschichte in den 50er-Jahren aus, kommt aber unter der Überschrift "Kunst als Gegenwartsdeutung" ebenfalls auf Max Imdahl als zentrale Persönlichkeit dieser technisch-visionären Kunstutopie zurück (François Morellet; Günther Uecker).

Zusammenfassend geht dieses Buch also weit über eine gewöhnliche Baumonografie hinaus, spricht Zeitgeschichte, Bildungspolitik, Kunst am Bau, Ästhetik und Industriegeschichte - in ihrem Verhältnis zur Denkmalskultur - ebenso an wie typen-, personen-, institutions- und planungsgeschichtliche Fragen im engeren und weiteren Umfeld dieser universitären Neugründung. Es ist ein facettenreiches, reich dokumentiertes und auch abwechslungsreiches, gut zu lesendes Buch und daher allen an Nachkriegsarchitektur Interessierten sehr zu empfehlen. Gespannt darf man sein, ob andere Universitäten ihr Nachkriegserbe ähnlich wertschätzend aufarbeiten werden und womöglich zukünftige Versuche "rettender Kritik" sich noch deutlicher auch den Verlusten zuwenden werden, welche das tayloristische Bauen am Beginn der computerprogrammierten Planung auch bedeutete.


Anmerkungen:

[1] Peter L. Berger / Thomas Luckmann: The social construction of reality. A treatise in the sociology of knowledge, London 1966 (dt. 1969).

[2] Clemens Kieser: Stadt, Haus oder Insel? Die Universität Konstanz als gebaute Utopie, in: Klaus Gereon Beuckers (Hg.): Universität als Bauaufgabe. Architektur für Forschung und Lehre, Kiel 2010, 259-280. Luckmann (1927-2016) vertrat dort den Lehrstuhl für Soziologie von 1970 bis 1994.

[3] Dass es vehemente Widerstände gab, wird wiederkehrend erwähnt, aber leider kein eigenes Thema einer Wirkungsgeschichte; die RUB war lange Zeit Synonym für Bauwirtschaftsfunktionalismus; so fehlt auch die Kritik Hans Kammerers in ders.: Die Universitäten Konstanz und Regensburg, in: Der Architekt 23 (1975), 137-142; oder von Gerhard Ullmann: Die deutsche Massenuniversität - ein kritischer Rückblick, in: deutsche bauzeitung 1978, H. 3, 24-49.

Christian Vöhringer