Martina Droth / Jason Edwards / Michael Hatt (eds.): Sculpture Victorious. Art in an Age of Invention, 1837-1901, New Haven / London: Yale University Press 2014, 448 S., 303 Farbabb., ISBN 978-0-300-20803-0, USD 80,00
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Ulrich Pietsch (ed.): Meissen für die Zaren. Meissen for the Czars. Porcelain as a Means of Saxon-Russian Politics in the Eighteenth Century, München: Hirmer 2004
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Erin Griffey: On Display. Henrietta Maria and the Materials of Magnificence at the Stuart Court, New Haven / London: Yale University Press 2015
Der umfassende, umfangreiche Katalog zur Ausstellung über die viktorianische Skulptur, die am Yale Center for British Art in New Haven und an der Tate Britain in London gezeigt wurde, füllt eine große Leerstelle in der Forschung zur englischen Kunst im 19. Jahrhundert. Zwar liegen Einzeluntersuchungen zu bestimmten Künstlern bzw. zu einzelnen Gruppen vor, doch fehlt ein detaillierter Überblick. Während in Benedikt Reads und Joanna Barnes' "Pre-Raphaelite Sculpture" (1992) einzelne Künstlerpersönlichkeiten mit ihrem Werk vorgestellt wurden, wobei auch Maler und ihre Auffassung von oder Beschäftigung mit der Skulptur bzw. die Übersetzung von Motiven aus ihrem Werk in die Skulptur eingeschlossen wurden, wählten die Herausgeber des vorliegenden Bands eine andere Vorgehensweise: Sie entschieden sich für eine Gliederung nach Themen, die die Skulptur in ihren zeitgenössischen Zusammenhängen untersucht und in acht Kapitel unterteilt. Dieses mag zunächst als ein eher punktuelles Verfahren wirken, doch da alle wichtigen Themen in großer Komplexität behandelt und innerhalb der Katalognummern die jeweiligen Künstler vorgestellt werden, verflüchtigt sich diese Befürchtung beim Lesen. Vielmehr erfreuen die Fülle an Bezügen, die durch diesen Ansatz entsteht, und die Einbettung der Kunstwerke in den viktorianischen Alltag.
Der Katalog greift das "klassische" Schema für Ausstellungskataloge auf, das in den letzten Jahren zugunsten einer Sammlung von themenbezogenen Aufsätzen und Tafeln der ausgestellten Werke zunehmend in den Hintergrund gedrängt schien. So folgen auf eine Einleitung der Herausgeber die acht Kapitel mit einer kurzen Einführung und ausführlichen Katalognummern, in denen das Werk und sein Künstler vorgestellt werden, die Arbeit analysiert sowie in Bezug zur Fragestellung und anderen ausgestellten Werken gesetzt wird, abschließend ausgewählte Literatur und umfangreiche Anmerkungen angefügt werden.
In der allgemeinen Einleitung wird der Ansatz, die Werke in ihren jeweiligen zeitpolitischen und -kulturellen Kontext einzustellen, erläutert. Als überzeugende Begründung wird angeführt, dass im viktorianischen Zeitalter die Skulptur oftmals nicht als isoliertes Sammlerstück, sondern für öffentliche Bauwerke bzw. für die Städte in Auftrag gegeben wurde, nicht nur in England selbst, sondern auch in den Kolonien, in Inszenierungen oder in didaktische Programme wie in den zahlreichen Ausstellungen eingebunden war. So wird immer wieder auf die Skulptur im Kontext der Weltausstellungen verwiesen, die dort zur Präsentation von Macht, Vermittlung moralischer und ästhetischer Werte, von technischen Fertigkeiten und neuen Techniken diente. Hieraus ergibt sich auch die spannungsvolle Positionierung der Skulptur zwischen traditionell freier und im Kontext der Weltausstellungen angewandter Kunst. So stehen in den folgenden Untersuchungen immer wieder die Aspekte von "manufacture" und "display" im Vordergrund. Die Skulptur soll die Größe und Macht der Nation verdeutlichen, erziehen und unterhalten, zumal sich diese Verbindung auf den Weltausstellungen für ein größeres Publikum als gelungen und erfolgreich erwiesen hatte.
Das erste Kapitel ist den Darstellungen Viktorias gewidmet, wobei die Beispiele nicht nur verschiedene Zeiten umfassen - von der jungen Frau bis zur älteren Königin - sondern auch unterschiedliche Medien - von der Marmorbüste bis zur Münze - und die Veränderungen und Deutungsvariationen des Herrscherbildes umfassen. Das erste Beispiel hilft nicht nur den Titel der Ausstellung, sondern auch das Verfahren der Kontextualisierung der Herausgeber zu beleuchten. Hier geht es um die in einem Flur im Osborne Haus, der Privatresidenz der königlichen Familie, aufgestellte Replik von Christian Daniel Rauchs "Walküre" / "Victoria" aus der Walhalla bei Regensburg. Sie verbindet sich inhaltlich und sprachlich in der räumlichen Gegenüberstellung mit einer Statue Victorias in antiker Gewandung mit Siegeskranz von John Gibson. Der Zusammenschluss symbolisiert die Blüte Englands unter der Königin. So erschließt sich die Bedeutung der Rauch-Skulptur in England erst durch den konkreten Kontext ihrer Aufstellung. Zudem kündigen sich weitere Themen des Kataloges an: die Bedeutung der Antike für die viktorianische Skulptur, Prinz Alberts Rolle als Kunstvermittler, Wiederholungen von einer Skulptur in unterschiedlichen Zusammenhängen, die Rolle der Allegorie, die Skulptur auf den Weltausstellungen und in der Präsentation in Seydenham, wohin der Kristallpalast überführt und ein didaktisch-unterhaltsamer Gang durch die Kunstgeschichte eingerichtet wurde. Die zweite und zugehörige dritte Katalognummer, Francis Legatt Chantreys Büste der Königin von 1840/1842, wiederum schneiden das Thema der Herstellung an, indem die Genese der Büste von einem Tonmodell über die Gipsabformung zum Gipsmodell und der darauf basierenden Marmor- bzw. Elfenbeinfassung geschildert wird. Hier deutet sich bereits an, dass der Katalog auch Gemmen, Kameen, Schmuck, Münzen sowie Werke in Keramik und Holz umfasst.
Das zweite Kapitel "Sculpture and Ceremonial" wendet sich den großen öffentlichen Bildwerken der Königin zu, die anlässlich der Regierungsjubiläen 1887 und 1897 bzw. nach ihrem Tode 1901 errichtet wurden, und den damit verbundenen Zeremonien der Enthüllungsfeierlichkeiten - nicht nur in England, sondern auch in den Kolonien. Diesen kommt in der Darstellung eine genauso große Aufmerksamkeit zu, da die Bedeutung der Skulptur in der Inszenierung der Enthüllung eine Verstärkung erfuhr. Hierfür wird auf zeitgenössische Fotos und Presseberichte zurückgegriffen. Die Feierlichkeiten unterstrichen die Macht Englands, die Ausdehnung und den idealen Zusammenhalt des englischen Reiches, die Bedeutung Englands als Seemacht.
Im dritten Kapitell wird dieses um den Aspekt der eigenen Geschichte erweitert. Im Zentrum stehen hier die Skulpturenprogramme in den Houses of Parliament und den Rathäusern außerhalb Londons, besonders in den jungen, reichen Industriestädten mit ihren stolzen Bürgern. Hier erfolgt gerne ein thematischer Rückgriff auf das seit dem 18. Jahrhundert erforschte Mittelalter oder die Epoche Elisabeths I., die in Hinblick auf die Machtausdehnung und den Aspekt der kulturell-wirtschaftlichen Blüte als Vorläuferin Victorias aufgefasst wurde. In diesem Kapitel werden neben dem Umgang mit Quellen auch das historisch-politische Verständnis der englischen Regierungsform sowie Restaurierungsprojekte behandelt.
Das vierte Kapitel widmet sich der Bedeutung der Antike im viktorianischen Zeitalter und dem ästhetisch-politischen Ideal des antiken Griechenlands. Standen im Zentrum der viktorianischen Wahrnehmung der Antike das Parthenon und die Arbeiten des Phidias, wird demgegenüber die Bedeutung der römischen Übermittlung des griechischen Vorbilds erörtert, hatten doch die meisten Bildhauer in Rom gelernt, sowie zeitgenössische Fragestellungen wie diejenige der farbigen Fassung der Bildwerke und die damit verbundene Veränderung in der Wahrnehmung der Skulptur. Dieses bildete für die Viktorianer nicht nur ein ästhetisches, sondern auch ein moralisches Problem, da die farbig gefasste Skulptur viel realitätsnäher wirkte und dadurch die Darstellung des nackten weiblichen Körpers plötzlich durchaus anstößig und nicht antik überhöht wirken konnte. Weitere Schwerpunkte des Kapitels bilden die Rezeption der Parthenon-Friese und die Diskussion in Zusammenhang mit dem Erwerb der Skulpturen durch die englische Regierung von Lord Elgin, die Bedeutung Thorvaldsens in England und die Verbreitung der Vorbilder durch die Reproduktion als Kleinskulpturen und in Abformungen.
Das fünfte Kapitel greift mit Hiram Powers "The Greek Slave" das Thema der Antike auf, setzt es nun aber in den Kontext der Präsentation auf den Weltausstellungen und der zeitgenössischen Anti-Sklaverei-Bewegung. Dieses Kapitel widmet sich erneut Methoden der Inszenierung, der Verbindung von Unterhaltung und Belehrung, unterschiedlichen Produktionsmethoden. Hier geht es auch um monumentale Keramik, virtuose Holzschnitzereien und Exponate aus den Kolonien. Das Thema "Sculpture and Display" führt die Überlegungen des vorangehenden Kapitels fort und widmet sich besonders der Rezeption von Powers "Greek Slave" und der Einrichtung der Galerien in dem nach Seydenham überführten Kristallpalast, wo durch Kopien und Rekonstruktionen dem Besucher ein historischer Rundgang geboten wurde. In "Sculpture and Commemoration" steht die Skulptur in Zusammenhang mit den Trauerfeierlichkeiten und dem Grabmal für den Duke of Wellington im Mittelpunkt; in "Craft and Art" werden die Bedeutung der handwerklichen Fertigung am Ende des 19. Jahrhunderts im Umfeld der Art Workers' Guild, die Begeisterung für das Mittelalter und für die Kombination unterschiedlicher Materialien untersucht. Mit diesen zwischen präraffaelitischer Stilisierung und naturalistisch anmutender Gestaltung changierenden Werken, die eine hohe handwerkliche Könnerschaft bekunden, ist das Ende des Zeitabschnitts erreicht.
Insgesamt ist der umfangreiche Katalog ein spannendes Lesevergnügen, da die Autoren nicht nur das Werk an sich und seine Stellung innerhalb des Œuvres des Künstlers, sondern immer in unterschiedlichem Kontext untersuchen und dadurch eine Fülle von Themen anschneiden, die nicht nur die Skulptur der viktorianischen Zeit, sondern auch grundlegende Einstellungen innerhalb der Epoche erklären. Durch die Wahl von bestimmten Leitmotiven und wiederholt erscheinenden Werken gelingt es, die Vielfalt an Informationen und Werken zusammenzuhalten und nicht nur eine Orientierung für den Leser zu bilden, sondern ihm auch immer wieder das Sinnvolle und Faszinierende des gewählten Ansatzes zu demonstrieren.
Michaela Braesel