Xavier Bray: Goya. The Portraits, New Haven / London: Yale University Press 2015, 270 S., 160 Farbabb., ISBN 978-1-85709-573-9, GBP 60,00
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Francisco de Goya y Lucientes wird gern als "Prophet der Moderne" bezeichnet. [1] Diese Sichtweise konzentriert sich auf Goya als Schöpfer einer Kunst, mit der er eine von Adel, Kirche und allgemeiner Dummheit deformierte Gesellschaft anprangerte. Dennoch rief Goya nicht zum Umsturz aller überbrachten Werte auf, wie viele Künstlergenerationen nach ihm. Er war gleichzeitig ein den sozialen Regeln unterworfener Höfling, der für den König, Adel und Klerus arbeitete. Diese Seite Goyas, die zwar bekannt ist, oftmals aber in den Hintergrund des Interesses der Forschung und der Öffentlichkeit tritt, wurde endlich in einer wegweisenden Ausstellung in der National Gallery in London honoriert. Vom 7. Oktober 2015 bis zum 10. Januar 2016 zeigte die National Gallery - man mag es kaum glauben - die erste Ausstellung, die Goyas Geschichte als Porträtist seiner Zeit erzählt. Auch in der Fachliteratur wurde Goyas Porträts seit den Veröffentlichungen von Elizabeth du Gué Trapier 1955 und 1964 [2] keine eigene Monografie mehr gewidmet.
Als Gastkuratoren gewann die National Gallery Xavier Bray, ehemals Kurator an der Dulwich Picture Gallery und seit Sommer 2016 Direktor der Wallace Collection in London. Bray hat sich in den letzten Jahren nicht nur als Kenner spanischer Kunst, sondern auch mit seiner Experimentierfreude bezüglich der Präsentation der permanenten Sammlung der Dulwich Gallery einen Namen gemacht. Diese Bereitschaft zum Unkonventionellen spiegelt sich im ungewöhnlichen Format des Ausstellungskatalogs wider. Während sich der "klassische Ausstellungskatalog" in der Regel aus essayistischen Expertenbeiträgen und Besprechungen der Exponate zusammensetzt, verfasste Bray den begleitenden Katalog zur Goya-Ausstellung praktisch im Alleingang. Einzig die Einleitung und die im Anhang zusammengetragenen Kurzbiografien der porträtierten Personen sowie die formalen Anmerkungen zu den Werken stammen von anderen Autoren.
Durch die primäre Autorschaft Brays und die Vielzahl der besprochenen Bildnisse liest sich der Ausstellungskatalog wie eine Monografie über Goyas Porträts, ein Eindruck, der durch Brays narrativen Stil noch verstärkt wird. Denn Xavier Bray behandelt in seinem Katalog nicht nur jene 69 Werke Goyas, die in der Ausstellung gezeigt wurden, sondern 42 weitere Bildnisse des Künstlers. Damit verfolgt er das erklärte Ziel, Goya von seiner besten Seite und gleichzeitig in seiner Mannigfaltigkeit zu zeigen. Die Auswahl der besten Porträts solle zudem einen Maßstab für diejenigen Bildnisse setzen, die in der Vergangenheit Goya zugeschrieben wurden, deren Autorschaft aber fraglich sei (11). Die Wahl der monografischen Form und die Fülle der diskutierten Bilder macht den Katalog zu einem wichtigen Referenzwerk für die Forschung zu Goyas Porträts. Gleichzeitig lässt sie aber auch eine einleitende Besprechung bisheriger Forschungsbeiträge zu diesem Thema und eine Positionierung von Brays Ausführungen innerhalb der Forschungslandschaft vermissen.
Der Aufbau des Katalogs folgt teils chronologischen, teils thematischen Gesichtspunkten. So reflektiert die Auswahl der Porträts nicht nur Goyas künstlerische Entwicklung von seinen ersten Porträts und seiner Zeit als Hofmaler bis zum Exil in Frankreich, sondern auch die großen Geschehnisse seiner Zeit von der Aufklärung bis zum spanischen Unabhängigkeitskrieg. Gleichzeitig stellt sich hier das ganze Spektrum von Goyas Klientel dar, von Politikern und Aristokraten über Hauptakteure der Aufklärung, Königsfamilie und Hochadel, Goyas Freunde, Kollegen und Familie bis hin zu Liberalen und Despoten.
Natürlich können bei einem monografisch-narrativen Buch, das über 100 Gemälde behandelt, keine bahnbrechenden Erkenntnisse zu einzelnen Bildnissen erwartet werden. Dafür gelingt es Bray, dem Leser die Augen für Zusammenhänge zu öffnen: Gemeinsamkeiten in den Entstehungsgeschichten der Porträts, Beziehungen ihrer Protagonisten untereinander oder auch Analogien in Goyas künstlerischen Zielen. So beginnt Bray beispielsweise das Kapitel "First Court Painter to the King (1799-1808)" recht überraschend mit einer kurzen Besprechung von Goyas Porträt des französischen Botschafters Ferdinand Guillemardet, der im Juli 1798 in Madrid weilte. Im nächsten Schritt zieht er Parallelen zwischen Goyas informell-respektvoller Herangehensweise an das Botschafterporträt und den etwa ein Jahr später entstandenen Porträts des spanischen Königpaars, Karl IV. im Jagdkostüm und Maria Luise von Parma vor der landschaftlichen Kulisse der Sommerresidenz la Granja de San Ildefonso. Das Königspaar war bereits zehn Jahre zuvor, kurz nach Regierungsantritt, von Goya porträtiert worden. Im Gegensatz zu jenen älteren, traditionelleren Porträts sollte die Repräsentation Karls IV. und seiner Gemahlin als reale Menschen, so Bray, das Image der spanischen Monarchie im eigenen Land wie im Ausland mit neuem Leben erfüllen und zeigen, dass die Bourbonen-Dynastie lebendig und wohlauf war.
Immer wieder zieht Bray den Vergleich zu Diego Velázquez und schildert dabei Goyas Bezugnahme auf dessen Porträts und deren Beweggründe. Auch die Verbreitung von eigenhändigen und von Mitarbeitern angefertigten Kopien und Bildvariationen zur Klärung der Zusammengehörigkeit von Bildgruppen bieten sinnvolle Ergänzungen zu den im Fokus behandelten Porträts. Darüber hinaus geht Bray auch auf das Problem der heutigen Betrachterperspektive bezüglich Goyas Porträts ein, die zum einen durch das Wissen um Goyas gesellschaftskritische Grafiken, zum anderen durch die Rezeption des 19. Jahrhunderts mit ihren Erwartungen an die Glorifizierung des Herrscherporträts, stark beeinflusst wurde. So versucht Bray auch immer wieder am Bild zu beweisen (zum Beispiel anhand der oben erwähnten informellen Porträts des Königspaars, 111-116), dass Goyas Hofporträts und andere Auftragsarbeiten keine versteckten satirischen oder kritischen Untertöne aufweisen, sondern oftmals Goyas Suche nach einer Balance zwischen Humanität und Autorität seiner Modelle widerspiegeln. So habe Goya statt seine Modelle zu idealisieren, ein reales und ehrliches Porträt eines wachen und liebenswerten Königs gezeichnet, der Tradition und Kontinuität repräsentiere und gleichzeitig zugänglich und sympathisch bleibe.
Goyas Fähigkeit, neben der gesellschaftlichen Stellung seiner Modelle ihre Menschlichkeit im Bild festzuhalten, ist vielen seiner Porträts gemein und seinem ausgeprägten Naturalismus geschuldet, mit dem er den Normenzwang und die rigide Doktrin der Königlichen Akademie der Bildenden Künste aufzubrechen suchte. Natürlich wirken Goyas Porträts neben anderen Werkgruppen wie den Grafikzyklen oder den Schwarzen Gemälden nicht annährend so revolutionär. Betrachtet man sie jedoch innerhalb der Entwicklung ihres Genres, so enthüllen sie Goyas deutliche Abneigung gegenüber traditionellen ästhetischen Werten und der jahrhundertelang gepflegten Idealisierung in der Porträtmalerei.
Goyas Porträts, die gerade im Dialog mit den monströsen Schöpfungen seiner Fantasie einen nicht wegzudenkenden Anteil an seiner Künstlerpersönlichkeit bilden, eine Ausstellung zu widmen, war ein dringend überfälliges Unterfangen. Desgleichen füllt Xavier Brays monografischer Ausstellungskatalog eine signifikante Forschungslücke, da seit den Publikationen Elizabeth du Gué Trapiers in den 50er- und 60er-Jahren keine Monografien zu Goyas Porträts mehr erschienen sind. Als einziges Manko der Veröffentlichung ist das Fehlen eines einleitenden Forschungsüberblicks zu nennen, denn auch wenn in den letzten Jahren keine umfassenden Abhandlungen zum Thema erschienen sind, wäre doch eine Erwähnung von Untersuchungen zu spezifischeren Themenbereichen innerhalb von Goyas Porträtmalerei, Aufsätze zu Einzelporträts oder auch eine Diskussion, weshalb Goyas Porträts derart vernachlässigt wurden, von großem Interesse gewesen.
Anmerkungen:
[1] So verkündete der Titel der großen Goya-Ausstellung, die 2005 bis 2006 in der Alten Nationalgalerie in Berlin stattfand.
[2] Elizabeth du Gué Trapier: Goya, a study of his portraits, 1797-99 (= Hispanic Notes & Monographs; Essays, Studies, and Brief Biographies), New York 1955; Elizabeth du Gué Trapier: Goya and his sitters. A study of his style as a portraitist (= Hispanic Notes & Monographs; Peninsular Series), New York 1964
Saskia Jogler