Rezension über:

Christoph Kühberger / Philipp Mittnik (Hgg.): Empirische Geschichtsschulbuchforschung in Österreich (= Österreichische Beiträge zur Geschichtsdidaktik. Geschichte - Sozialkunde - Politische Bildung; Bd. 10), Innsbruck: StudienVerlag 2015, 229 S., zahlr. s/w-Abb., ISBN 978-3-7065-5429-9, EUR 29,90
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Rezension von:
Manuel Köster
Historisches Institut, Universität zu Köln
Redaktionelle Betreuung:
Christian Kuchler
Empfohlene Zitierweise:
Manuel Köster: Rezension von: Christoph Kühberger / Philipp Mittnik (Hgg.): Empirische Geschichtsschulbuchforschung in Österreich, Innsbruck: StudienVerlag 2015, in: sehepunkte 17 (2017), Nr. 4 [15.04.2017], URL: https://www.sehepunkte.de
/2017/04/28520.html


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Christoph Kühberger / Philipp Mittnik (Hgg.): Empirische Geschichtsschulbuchforschung in Österreich

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Die Rede vom Schulbuch als "Leitmedium des Geschichtsunterrichts" [1] hat sich im geschichtsdidaktischen Diskurs als Topos etabliert, der regelmäßig verwendet, hinterfragt oder verteidigt wird. Schon aufgrund der (bisweilen nur vermuteten) Zentralstellung des Schulbuchs für die Unterrichtsgestaltung stellt es einen beliebten Gegenstand empirischer Forschung dar. [2] Dies gilt auch für die österreichische Geschichtsdidaktik. Der vorliegende, von Christoph Kühberger und Philipp Mittnik herausgegebene Sammelband dokumentiert die Ergebnisse einer Tagung aus dem Sommer 2014. Neben den Tagungsbeiträgen selbst bietet der Band einen interessanten Einblick in die Produktionsbedingungen österreichischer Lehrwerke [3] sowie in die vom österreichischen Bildungsministerium erstellte "Handreichung Fachspezifische Kompetenzorientierung in Schulbüchern", die von Mitherausgeber Kühberger und Reinhard Krammer entwickelt wurde, die jedoch in keinem direkten Zusammenhang zur hier dokumentierten Tagung steht.

Nach einer knappen Einleitung präsentieren die ersten beiden Beiträge des Bandes keine dezidiert österreichische Perspektive, sondern verweisen auf internationale Projekte. Bodo von Borries fasst die Befunde seiner mehrere Jahrzehnte umspannenden empirischen Forschungstätigkeit zusammen. Wenngleich hier keine neuen Ergebnisse publiziert werden, ist der Beitrag dennoch in doppelter Hinsicht ein Gewinn für den Band: Zum einen werden die Befunde unterschiedlicher Projekte gebündelt zusammengefasst - wenn auch nicht zum ersten Mal [4] -, zum anderen werden nicht nur Inhaltsanalysen, sondern auch Ergebnisse der Rezeptionsforschung vorgestellt - ein Forschungsfeld, welches nicht nur in der Einleitung völlig zu Recht als weitgehendes Desiderat der geschichtsdidaktischen Empirie markiert wird. Leider verzichtet von Borries jedoch darauf, seine nicht mehr hochaktuellen, aber nach wie vor relevanten Befunde in den aktuellen Forschungsdiskurs einzuordnen. Auch der bisweilen normative Duktus gegenüber Lehrpersonen ("Angewehte pathetische Theoriefragmente [...] stehen unverbunden neben Schlendrian und Resignation"; 25) und Lernenden ("beklagenswert ärmlich"; 29) erscheint teilweise unangemessen. Barbara Christophe dagegen systematisiert kulturwissenschaftliche Ansätze der Schulbuchforschung, die das Lehrwerk in erster Linie als mentalitätsgeschichtliche Quelle betrachten. In einem sowohl deutschsprachige als auch internationale Arbeiten berücksichtigenden Forschungsüberblick werden vor allem solche Projekte vorgestellt, bei denen es darum geht, die impliziten Sinnbildungsangebote sowie die über Plotmuster und sprachliche Strukturen transportierten Wertungen offenzulegen. Diesen schreibt Christophe eine höhere Wirkmacht zu als offenen Sinnbildungsangeboten, welche die Lernenden übernehmen, aber auch ablehnen oder modifizieren könnten.

Die sieben österreichischen Forschungsbeiträge des Bandes beschäftigen sich vor allem mit der Darstellung thematischer Aspekte in ausgewählten Schulbüchern. Dabei kommen Christoph Kühberger und Elfriede Windischbauer jeweils zu dem Fazit, dass weder die stark beziehungs- und verflechtungsgeschichtlich akzentuierte "Neue Weltgeschichte" (Kühberger) noch die Gendergeschichte (Windischbauer) in österreichischen Geschichtsschulbüchern eine durchgehend berücksichtigte historische Dimension darstellen. Stattdessen werde die Geschichte wirtschaftlicher Verflechtungen als eurozentrisches Fortschrittsnarrativ präsentiert, Gendergeschichte dagegen finde trotz einer leichten Zunahme der Zahl weiblicher Akteure in den Verfassertexten und eines deutlicheren Anstiegs bei den Bildquellen noch immer vornehmlich in "Frauenecken" (76) als Appendix zum Hauptnarrativ statt.

Zwei weitere Beiträge seien an dieser Stelle erwähnt: Ina Markova untersucht die Rolle österreichischer "Schlüsselbilder der NS-Zeit" im Schulbuch. In einem diachronen, ein breites Korpus von 72 Schulbüchern berücksichtigenden Zugriff belegt die Verfasserin die Dominanz eines visuellen Opfernarrativs, welches das identitätsstiftende Bild einer österreichischen "Leidensgemeinschaft" bestärkt. Roland Bernhard dagegen präsentiert Beispiele fehlender empirischer Triftigkeit bei der Darstellung der "Entdeckung" beziehungsweise "Eroberung" Mittelamerikas im 16. Jahrhundert, wobei er unter anderem für einen heuristischen, nicht bloß illustrativen Umgang mit Bildquellen wirbt.

Der insgesamt lesenswerte Band weist jedoch auch einige Defizite auf, die zum Teil für Tagungsbände typisch sind: So fällt erstens auf, dass die Mehrzahl der Beiträge auf eine reflektierende und / oder systematisierende Einordnung der eigenen Befunde in einen größeren theoretischen oder empirischen Kontext verzichtet - ein möglicherweise kurzen Referatszeiten geschuldetes Faktum. Werden dezidiert geschichtsdidaktische Zugänge gewählt, so dominiert hier der Zugang der Forschungsgruppe zur Förderung und Entwicklung eines reflektierten und (selbst-)reflexiven Geschichtsbewusstseins (FUER), was neben der personellen Zusammensetzung der Tagung wohl vor allem auch auf die Tatsache zurückzuführen ist, dass das FUER-Modell in Österreich die Grundlage des Lehrplans bildet. Eine Kontextualisierung jenseits dieses Ansatzes wird dagegen kaum einmal versucht. Zweitens handelt es sich bei den Beiträgen entweder um Zusammenfassungen bereits publizierter Befunde oder um konzeptionelle Überlegungen in der Frühphase eines Projektes (Mittnik), wohingegen kaum neue Befunde publiziert werden (Ansätze dazu bei Hofmann-Reiter und Nitsche). Dabei bleiben mehrere Aufsätze bei Defizitanalysen stehen, ohne diese noch weiter einzuordnen oder pointierte Thesen zu entwickeln. Drittens schließlich ist das ausgesprochen nachlässige Lektorat des Bandes zu monieren. Dennoch ermöglicht der Band insgesamt einen interessanten Einblick in die österreichische Schulbuchforschung.


Anmerkungen:

[1] Die Formulierung geht zurück auf Jörn Rüsen: Das ideale Schulbuch. Überlegungen zum Leitmedium des Geschichtsunterrichts, in: Internationale Schulbuchforschung 14 (1992), 237-250.

[2] Für einen Überblick vergleiche Eckhardt Fuchs / Inga Niehaus / Almut Stoletzki: Das Schulbuch in der Forschung. Analysen und Empfehlungen für die Bildungspraxis (= Eckert. Expertise; Bd. 4), Göttingen 2014.

[3] Der Beitrag von Sigrid Vandersitt bietet damit eine komplementäre Perspektive zu vorliegenden, die Situation in Deutschland und der Schweiz darstellenden Aufsätzen. Vergleiche Heike Hessenauer: Die Produktion von Schulbüchern - Zwischen rechtlichen Vorgaben und unternehmerischem Kalkül, in: Saskia Handro / Bernd Schönemann (Hgg.): Geschichtsdidaktische Schulbuchforschung ( = Zeitgeschichte - Zeitverständnis; Bd. 16), Berlin 2006, 265-282; Peter Gautschi: Geschichtslehrmittel. Wie sie entwickelt werden und was von ihnen erwartet wird, in: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 5 (2006), 178-197.

[4] Vergleiche zum Beispiel Bodo von Borries: Wie wirken Schulbücher in den Köpfen der Schüler? Empirie am Beispiel des Faches Geschichte, in: Eckhardt Fuchs u.a. (Hgg.): Schulbuch konkret. Kontexte - Produktion - Unterricht, Bad Heilbrunn 2010, 102-117.

Manuel Köster