Henrik Bispinck (Bearb.): Die DDR im Blick der Stasi 1956. Die geheimen Berichte an die SED-Führung, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2016, 320 S., 7 s/w-Abb., ISBN 978-3-525-37506-8, EUR 30,00
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1956 - ein epochemachendes Revolutionsjahr oder ein Jahr, in dem rein zufällig verschiedene Ereignisse in der Welt zusammenkamen? Die jüngsten Diskussionen um das Buch von Simon Hall [1] haben noch einmal deutlich gemacht, dass "1956" unlängst zu einem Label für Aufbruch und Befreiung in Ost wie West geworden ist: Entstalinisierung und Aufstände in Polen und Ungarn gegen die kommunistischen Machthaber auf der einen, Civil-Rights-Movement gegen rassistische Unterdrückung auf der anderen Seite. Auch in der kleinen DDR rumorte es. Bis auf wenige kurzzeitige Streiks und Arbeitsniederlegungen blieb es hier jedoch ruhig. Die Furcht vor einem Überschwappen polnischer und ungarischer "Zustände" auf den SED-Staat bewahrheitete sich nicht. Die von Henrik Bispinck zusammengestellten Berichte der "Zentralen Auswertungs- und Informationsgruppe" (ZAIG) der Stasi an die SED-Führung geben den wohl informativsten Einblick in die Stimmungslage der ostdeutschen Gesellschaft. Dass der Jahrgang 1956 "einer der umfangreichsten" (7) überhaupt ist, wie Daniela Münkel gleich zu Beginn im Vorwort betont, signalisiert, wie groß die Furcht der SED-Führung vor der eigenen Bevölkerung und sogar den eigenen Mitgliedern war. Der Reihentitel irritiert jedoch etwas, denn längst nicht alle Berichte gingen an die SED-Führung, 74 der nachgewiesenen 537 Dokumente führen stattdessen den sowjetischen Geheimdienst KGB als alleinigen Adressaten an.
Folgt man der Berichterstattung des MfS, so träumten offenbar viele von einem Befreiungsschlag in der DDR. Revolutionspotential war jedoch nirgends wirklich erkennbar, "Feindtätigkeit" dagegen schon. Dabei fasste die Stasi unter diesem Begriff so ziemlich alles, was von der dogmatischen Linie der SED abwich. Nicht nur die Gegenpropaganda westdeutscher Stellen, etwa des Ostbüros der SPD, vereinzelte Forderungen nach einem Rücktritt Walter Ulbrichts, auch kritische Bemerkungen über die Lebensmittelversorgung, Arbeitsunfälle, die Viehhaltung und die Wirtschaftslage im Allgemeinen fielen in dieses Raster. Die Unfähigkeit des Regimes zu differenzieren, zeigte sich hierin einmal mehr. Bei aller "Feindtätigkeit" verlor die Stasi (jedoch eher beiläufig) nicht aus dem Blick, dass es so schlecht um die DDR dann doch nicht bestellt war. Vor allem die sozialpolitischen Maßnahmen, die die SED auf ihrer III. Parteikonferenz im März 1956 angekündigt hatte (Rentenerhöhungen, Arbeitszeitverkürzungen), fanden in den Industriebetrieben wesentlich stärkere Aufmerksamkeit als das Bekenntnis der SED zur Entstalinisierung. Auch die in der zweiten Jahreshälfte verzeichneten Arbeitsniederlegungen und Streiks blieben kurzzeitige und singuläre Ereignisse. Die noch frischen Erinnerungen an die Niederschlagung der Aufstände vom 17. Juni 1953 sind hierfür nur eine Erklärung. Die Ereignisse in Polen und Ungarn wurden zudem vielfach als rein wirtschaftlich motiviert betrachtet. Es sei, so eine Stimme aus Gera vom 25. Oktober 1956, "kein Wunder, wenn die Menschen in diesen Ländern meutern, denn dort ist der Lebensstandard noch geringer als in der DDR" (216). Auch an Universitäten wurden die Ereignisse mitunter als rein innerstaatliche Angelegenheiten der jeweiligen Länder gedeutet, während die Situation in der DDR als stabiler eingeschätzt wurde. In der LDPD wurden gar Stimmen laut, die die Aufstände in Polen und Ungarn als negative Auswirkungen der Entstalinisierung bezeichneten. Anderen erschien dagegen Otto Grotewohl als Hoffnungsträger. Kurzum: Die Rezeption der Aufstände in Polen und Ungarn war wohl weniger von Aufbruchsstimmung gekennzeichnet als gemeinhin angenommen.
Dagegen wurden die Wiederbewaffnung und die Gründung der Nationalen Volksarmee (NVA) überwiegend ablehnend aufgenommen. Den Menschen war der Zweite Weltkrieg noch allzu präsent. Zudem befürchteten viele einen "Bruderkrieg" mit Westdeutschland - eine Vision, die sich so gar nicht mit dem antifaschistischen Selbstbild der SED vertrug. Interessant ist, wie Bispinck auch in seiner informativen Einleitung betont, dass Diskussionen unter Intellektuellen und das Thema "Republikflucht" in den Berichten nur wenig Aufmerksamkeit erfuhren, obwohl die Zahl der in den Westen geflohenen Menschen 1956 einen neuen Höchststand erreichte. Der Hauptfokus blieb auf den Industriebetrieben. Die Berichte geben insgesamt nicht nur längst Bekanntes wieder, sie werfen auch neue Fragen auf. So ist etwa fraglich, ob die vielfach registrierten Hakenkreuz-Schmierereien tatsächlich nur "Provokationen" waren. Die Berichte der ZAIG lassen die populäre Interpretation, nach der die Forderung nach freien Wahlen mit Demokratiesehnsucht gleichgesetzt wird, zumindest fraglich erscheinen.
Münkel und Bispinck weisen zurecht darauf hin, dass die ZAIG-Berichte bei allem Informationsgehalt mit Vorsicht zu interpretieren sind. In ihnen spiegelt sich die Stimmungslage der Bevölkerung letztlich nur vermittelt wider, in erster Linie geben die Dokumente einen unmittelbaren Einblick in die Denkschemata der Stasi. Und hierbei stößt man zugleich an die Grenzen der Quellenkritik. Zum Wesen eines Geheimdienstes gehört es leider auch, dass die Art und Weise des Zustandekommens und der Selektion von Informationen im Dunkeln bleibt. Da hilft auch die Bemerkung Münkels wenig, dass die Berichte des Jahres 1956 "weniger ideologisch überformt und damit authentischer als in den 1970er Jahren" seien (7). "Weniger" ist eben doch nicht unbedingt gleich "Mehr". Das muss jedoch kein Manko sein, sondern könnte ein interessanter Ausgangspunkt für die gegenwärtig viel diskutierte Frage nach dem Wissen von Geheimdiensten sein.
Die editorische Sorgfalt und insbesondere die hervorragende Einleitung, in der Bispinck nicht nur auf Themen, sondern auch auf die Abteilung Information des MfS, die Struktur der Berichte, die Adressaten sowie ihre Rezeption eingeht, sind hervorzuheben. Einwenden könnte man jedoch, dass die Anmerkungen in den Fußnoten manchmal etwas kleinlich erscheinen. Ob man etwa "Nationale Volksarmee" und "Jugendweihe" immer wieder zusätzlich in Fußnoten erläutern muss (während dagegen Begriffe wie "MTS" oder "Parteilehrjahr" ausgespart werden), ist sicherlich Abwägungssache.
Problematischer ist dagegen die Konzeption des Buches (bzw. der Reihe) selbst. Dieser Band bringt die ZAIG-Berichte des Jahres 1956 nur in einer Auswahl, was angesichts des Umfanges von nahezu 3.000 Seiten völlig verständlich ist. Weniger einleuchtend sind jedoch die Selektionskriterien. Die Berichte sollen, den Einlassungen Bispincks zufolge, "einen möglichst repräsentativen Querschnitt aus den Themenfeldern dieses Jahrgangs" bieten (54). Was jedoch "repräsentativ" für einen Jahrgang ist, müsste entweder näher erläutert oder sollte im Zweifel den Forschenden überlassen werden. Hinzu kommt, dass die Quellen nicht durch Personen-, Orts- und Sachregister erschlossen werden. Fachhistoriker/innen werden deshalb kaum mit dem Buch arbeiten, sondern eher auf die Website (www.ddr-im-blick-1956.de) zurückgreifen, auf der die Berichte vollständig und mit allen editorischen Anmerkungen zu finden sind.
Anmerkung:
[1] Simon Hall: 1956. The World in Revolt, London 2016.
Christian Rau