Kerstin Hohner: Abseits vom Kurs. Die Geschichte des VEB Hinstorff Verlag 1959-1977, Berlin: Ch. Links Verlag 2022, 436 S., ISBN 978-3-96289-155-8, EUR 60,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Ulrich Wiegmann: Agenten - Patrioten - Westaufklärer. Staatssicherheit und Akademie der Pädagogischen Wissenschaften der DDR, Berlin: Metropol 2015
Mandy Tröger: Pressefrühling und Profit. Wie westdeutsche Verlage 1989/90 den Osten eroberten, Köln: Halem 2019
Thomas Großbölting: Wiedervereinigungsgesellschaft. Aufbruch und Entgrenzung in Deutschland seit 1989/90, Bonn: bpb 2020
Die DDR begriff sich als "Leseland". Sie verfügte über ein dichtes Netz an gut ausgestatteten Bibliotheken und Verlagen, welche die Bevölkerung mit erschwinglichen und oft auch ästhetisch ansprechenden Büchern versorgte. Das Buch diente der Staatspartei SED darüber hinaus als Devisenbringer und Werkzeug der Kulturdiplomatie. Die Schattenseite der lesefreudigen Gesellschaft war ein staatliches Zensur- und Überwachungssystem, das darüber entschied, was gedruckt und gelesen werden durfte. Dass Bibliotheken und Verlage aber durchaus über einen gewissen Handlungsspielraum beziehungsweise eine (freilich begrenzte) Definitionsmacht darüber verfügten, was als "sozialistisch" und politisch erwünscht gelten durfte, haben historische Studien immer wieder gezeigt. Kerstin Hohners Arbeit über den VEB Hinstorff Verlag - die gedruckte Fassung ihrer an der Universität Leipzig verteidigten Dissertation - reiht sich in diesen Kanon buch- und verlagsgeschichtlicher Forschungen ein. Im Fokus der klassischen Institutionengeschichte steht der Zeitraum von 1959 bis 1977, in dem sich Hinstorff zum "auratischen Verlag für DDR-Literatur" (25) entwickelt habe, der auch in die Bundesrepublik ausstrahlte. Dies war, so die Grundthese des Buches, das Verdienst des Verlagsleiters Konrad Reich und seines Cheflektors Kurt Batt, die sich intensiv um junge DDR-Schriftsteller bemühten und ihre kulturpolitischen Handlungsspielräume zu nutzen wussten. Neu ist diese These nicht, vielmehr folgt Hohner den Erinnerungen vieler Zeitzeugen, kann diesen aber durch jahrelange und intensive Recherchen in zahlreichen Archiven sowie durch weitere Zeitzeugeninterviews, die dem Buch als Anhang beigefügt sind, bislang weniger bekannte Facetten hinzufügen.
In fünf chronologisch angelegten Kapiteln beleuchtet Hohner die Vorgeschichte des Traditionsverlags (Kapitel II), dessen Vorläufer sie bis in die 1830er Jahre zurückverfolgt, die Anfangsjahre des VEB Hinstorff Verlag von 1959 bis 1965 (Kapitel III), die Entwicklung zum regionalen beziehungsweise Heimat-Verlag für den (ost-)deutschen und skandinavischen Ostseeraum von 1966 bis 1970 (Kapitel IV), die kurze "Aufstiegsphase" zum Verlag für DDR-Belletristik von 1971 bis 1973 (Kapitel V) und die von 1974 bis 1977 reichende Endphase des Duos Reich und Batt, in der sich die Gestaltungsmöglichkeiten des Verlags zusehends verengten. In ihren Schlussbetrachtungen wirft Hohner zudem einen Ausblick auf die Transformationszeit nach 1989/90. Neben der institutionellen und wirtschaftlichen Entwicklung sowie der Profilierung des Verlags beleuchtet die Autorin in jedem Kapitel stets auch das Verhältnis von Hinstorff zum Ministerium für Staatssicherheit und rekonstruiert einige bekannte Publikationsprojekte, an denen sie exemplarisch die Zensurpraxis und den Aktionsradius beziehungsweise die Strategien von Reich und Batt untersucht.
Obwohl die Darstellung viel Bekanntes bringt, bietet Hohner erstmals eine Gesamtsicht auf die Geschichte des Hinstorff Verlags. Sie zeigt, wie Hinstorff als auf den Ostseeraum konzentrierter Regionalverlag und im Schatten großer Verlage wie der Aufbau oder Mitteldeutsche Verlag in den 1960er Jahren immer attraktiver für junge Schriftsteller aus der DDR wurde, die sich nicht in die ideologische Enge des offiziellen Kurses drängen lassen wollten. Die schon kurz nach der Konstituierung als volkseigener Verlag 1959 begonnene Zusammenarbeit mit Franz Fühmann tat ihr Übriges. Verblüffend ist, wie widerstandslos sich die beiden genannten Großverlage Schriftsteller wie Fühmann oder Rolf Schneider von Hinstorff abwerben ließen. Hier hätte man gern mehr über die Hintergründe erfahren. Der größte Erfolg des Verlags (auch in der Bundesrepublik) - die Veröffentlichung von Ulrich Plenzdorfs "Die neuen Leiden des jungen W." im Jahr 1973 - geriet schließlich zum Testfall des von Erich Honecker nach dem Machtwechsel an der Spitze von SED und DDR 1971 eingeleiteten kulturpolitischen Tauwetters, das spätestens mit der Ausbürgerung des Liedermachers Wolf Biermann 1976 ein Ende fand. Gegen diese Aktion hatten auch viele Hinstorff-Autorinnen und -Autoren protestiert, die dem von ihnen als Lektor geschätzten Kurt Batt jedoch eine ähnliche Geste der Solidarität verweigerten, als dieser im Jahr zuvor aus politischen Gründen abgelöst wurde. Batt starb noch im Jahr seiner Absetzung und 1977 verließ schließlich auch Reich den Verlag, wodurch dieser an Bedeutung im Bereich der DDR-Belletristik verloren habe, auch wenn namhafte Autoren wie Fühmann, Plenzdorf oder Jurek Becker ihm weiterhin treu blieben. 1990 gründete Reich seinen eigenen Verlag, dessen Programm 2006 vom privatisierten Hinstorff Verlag übernommen wurde.
Der Titel der Studie "Abseits vom Kurs" wird der Wirklichkeit am Ende nicht gerecht, denn der Verlag agierte keineswegs "abseits", sondern vielmehr strategisch clever in den Grauzonen der offiziellen Ideologie, die einen gewissen Aushandlungsspielraum ließ. Auch war der Verlagsleiter Reich kein Oppositioneller. Stattdessen trug das SED-Mitglied als Inoffizieller Mitarbeiter der Staatssicherheit (wie auch einige Lektorinnen und Lektoren des Verlags) regelmäßig Interna zu; der parteilose Batt wies dagegen jegliche Anwerbungsversuche der Staatssicherheit ab. Die Studie orientiert sich zudem sehr nah an den Quellen und verzichtet auf eine theoretisch-methodische Grundierung, was die Autorin mit der "Vielschichtigkeit einer Verlagsgeschichte" (15) begründet, die das bisherige Methoden- und Theorieangebot der Buch- und Literaturwissenschaft nicht einfangen könne. Das hat nicht nur zur Folge, dass die Autorin den zeitgenössischen Urteilen häufig zu unkritisch folgt, die Quellenkritik an einigen Stellen zu kurz kommt und die Darstellung damit teilweise auch verklärende Züge annimmt.
Aus der Sicht eines Zeithistorikers, der selbst im Rahmen eines Projekts zur Deutschen Bücherei im geteilten Deutschland einen Ausflug in die Bibliotheksgeschichte des 20. Jahrhunderts unternommen hat, zeigt sich in der Theorie- und Methodendiskussion auch einmal mehr ein Grundproblem der Buch-, Verlags- und Bibliotheksgeschichte: die disziplinäre Bindung an die Buch-, Literatur- und Bibliothekswissenschaft und der fehlende Austausch mit der Zeitgeschichte. Dies ist weniger als Kritik am Buch von Hohner zu verstehen, sondern vielmehr als Impuls für beide Seiten, den Austausch stärker zu suchen und Synergieeffekte auszuloten. So mögen sich Zeithistorikerinnen und -historiker durch die Lektüre des vorliegenden Buches ermuntert fühlen, die von der Autorin nur am Rande behandelten Verbindungen des Hinstorff Verlags zum skandinavischen Raum als transnationale Geschichte zu untersuchen, und die Buchgeschichte könnte dies wiederum als Impuls begreifen, sich ein Stück weit von ihrer Fokussierung auf die nationale Literatur zu lösen. Ein transnationaler Blick auf den Verlag würde letztlich auch die von der Autorin vorgenommene Periodisierung relativieren, die sich vor allem an der Bedeutung von Hinstorff für die deutsche Literaturgeschichte orientiert. Kerstin Hohner hat schlussendlich ein Grundlagenwerk zum VEB Hinstorff Verlag vorgelegt, dem trotz der streckenweise zu deskriptiv geratenen Darstellung eine breite Leserschaft auch in der Zeitgeschichte zu wünschen ist.
Christian Rau