Franziska Krah: "Ein Ungeheuer, das wenigstens theoretisch besiegt sein muß". Pioniere der Antisemitismusforschung in Deutschland (= Wissenschaftliche Reihe des Fritz Bauer Instituts; Bd. 29), Frankfurt/M.: Campus 2016, 466 S., ISBN 978-3-593-50624-1, EUR 39,95
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Michael Brenner: Der lange Schatten der Revolution. Juden und Antisemiten in Hitlers München 1918 bis 1923, Berlin: Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag 2019
Daniel Münzner: Kurt Hiller. Der Intellektuelle als Außenseiter, Göttingen: Wallstein 2015
Alexander Kluy: George Grosz. König ohne Land. Biografie, München: DVA 2017
"Alle Handlungen von Juden", so schrieb 1921 der Philosoph Julius Goldstein, "werden nicht, wie bei Angehörigen anderer Bevölkerungsgruppen, in erster Linie aus Milieu, Klasse, Schicksal, Individualität begriffen, sondern aus dem Rassefaktor. [...] Begeht ein Jude eine schimpfliche Handlung, so folgt sie aus seiner semitischen Rasse. Begeht sie ein Nichtjude, so liegt ein Fall persönlicher Verschuldung vor, der nicht der arischen Rasse zugeschrieben wird." [1] An hellsichtige und entlarvende Analysen antisemitischen Denkens wie diese zu erinnern und sie miteinander in Beziehung zu setzen, ist das Hauptverdienst der vorliegenden, an der Universität Potsdam entstandenen Doktorarbeit von Franziska Krah. Ihr Hauptziel ist es, eine "Übersicht" (7) darüber zu geben, wie in kritisch-theoretischen Texten vor 1933 der Antisemitismus erklärt und analysiert wurde. Krah interessiert sich dabei nicht für die Deutungen des mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Antijudaismus, sondern jenes Antisemitismus, "den die Autoren zu Beginn des 20. Jahrhunderts selbst erlebten" (8). Diese Eingrenzung ist nicht nur arbeitsökonomisch, sondern auch sachlich nachvollziehbar, nahm der Antisemitismus seit ca. 1900 infolge der "fortschreitenden Biologisierung des politischen Denkens [...] unter dem Einfluß sozialdarwinistischer, eugenischer und rassenhygienischer Theorien" [2] doch eine neue, "modernere" Gestalt an, die mit älteren Formen der Judenfeindschaft nur zum Teil vergleichbar ist.
Der Untersuchungszeitraum der Arbeit reicht von 1900 bis 1933, wobei der Fokus klar auf den Jahren nach 1918 liegt. Krah möchte klären, "inwieweit die damaligen grundlegenden Forschungsarbeiten plausible Erklärungsversuche [zur] Entstehung und Wirkungsart" sowie zur "Anziehungskraft" (19) des Antisemitismus formulierten. Für ein vertieftes Verständnis der untersuchten Texte sollen diese zugleich "in die Wissenskultur und den Wissenstand" (28) des frühen 20. Jahrhunderts eingeordnet werden. Krah grenzt sich somit von einer rein textimmanenten Deutung ihrer Quellen ab und verschreibt sich einer "klassischen hermeneutischen Interpretation" (29). Von der Auffassung, "dass sich eine moderne Antisemitismusforschung erst nach 1945 [...] herausgebildet habe" (21), distanziert sich die Autorin explizit und stellt stattdessen "die Leistungen und den Ideenreichtum" (22) älterer Referenzautoren "antisemitismusanalytische[r] Literatur" (24) heraus. Ihre Aufmerksamkeit gilt vor allem Heinrich Coudenhove (1859-1906), Constantin Brunner (1862-1937), Julius Goldstein (1873-1929), Arnold Zweig (1887-1968), Fritz Bernstein (1890-1971) und Michael Müller-Claudius (1888-unbekannt). Präzise begründet wird diese Auswahl indes nicht und es stellt sich die Frage, ob nicht beispielsweise Adolf Sommerfeld mit seinen Schriften Der Antisemitismus. Eine Rassenlüge (1920) und Der Antisemitismus. Keine Rassenfrage (1925) einschlägiger gewesen wäre als etwa Fritz Bernstein, zumal dessen von Krah intensiv untersuchte Schrift Der Antisemitismus als Gruppenerscheinung (1926) seinerzeit "schnell in Vergessenheit" (58) geriet, wie die Autorin selbst betont.
Teil 1 der Studie beschreibt die Biografien der genannten Autoren bis 1933 sowie die persönlichen Erfahrungen, welche diese mit dem Antisemitismus machten. So soll nachvollzogen werden, "in welcher Atmosphäre ihre Schriften entstanden" (63). Die Omnipräsenz antisemitischer Klischees in der politischen Kultur, an den Universitäten, in Schule und Heer sowie im Alltagsleben prägte ihr Denken und so war es in erster Linie "die persönliche Sorge angesichts der gesellschaftlichen Bedrohung" (74), welche sie dazu bewegte, sich mit dem Antisemitismus auseinanderzusetzen. Mit ihrem wissenschaftlichen Anspruch, "objektive Ergebnisse zutage zu fördern" (75), bemühten sich die Autoren darum, unterschiedliche Deutungen kritisch abzuwägen und ihr (erhofftes) bildungsbürgerliches Zielpublikum in sprachlich distinguierter Form argumentativ zu überzeugen.
Teil 2 der Studie rekonstruiert en détail die unterschiedlichen Deutungsansätze der Antisemitismusforschung vor 1933. Das größte Gewicht besitzen hier erstens (massen-)psychologische Erklärungsversuche, die jedoch meist "recht oberflächlich" (208) ausfielen, zweitens Überlegungen, in welchem Verhältnis Nationalismus und Antisemitismus zueinander standen, drittens schließlich Auseinandersetzungen mit der damals populären Rassentheorie und den Postulaten der "Rassenkunde". Aufschlussreich sind hier auch die zahlreichen Widersprüche zwischen den Forschern, die trotz ihrer ähnlichen Interessen keineswegs ein homogenes Ganzes bildeten. Als besonders konfliktträchtig erwiesen sich die Fragen, welche Bedeutung (falls überhaupt) der Religion im modernen Antisemitismus noch zukomme, inwiefern gruppensoziologische Ansätze zu dessen Erklärung geeignet seien, ob der Zionismus die Spannungen zwischen Juden und Nichtjuden vermindere oder verstärke, ob eine "ethnische Zugehörigkeit der in Deutschland lebenden Juden zum deutschen Volk" (265) existiere oder vielmehr eine "tatsächliche Andersartigkeit" (180) vorliege, und schließlich die grundlegende strategische Frage, ob es nicht aussichtslos sei, dem zutiefst emotional gefärbten Antisemitismus mit rationalen Argumenten entgegenzutreten.
Freilich gab es auch übergreifende verbindende Faktoren. Neben dem Bedürfnis, antisemitische Vorurteile objektiv zu widerlegen, lehnten alle Autoren jede "Entindividualisierung von Juden" (179) ab und neigten zu "psychologischen Charakterisierungen" (240) ihrer ideologischen Antipoden. Zugleich hielten alle Autoren "an der Vorstellung eines positiven Nationalbewusstseins" (271) und zugleich "an einer übernationalen einheitlichen Menschheitsidee fest" (276) - ein interessantes Spannungsverhältnis, das Krah leider nicht weiter analysiert. Darüber hinaus tendierten sämtliche Autoren letztlich zu monokausalen Erklärungsmodellen, in denen die "Eigenschaften oder Handlungen der tatsächlich existierenden Juden" (327) und ihre "Stellung [...] im wirtschaftlichen, politischen oder kulturellen" (333) Leben des Kaiserreichs und der Weimarer Republik indes kaum eine Rolle spielten.
Der dritte Teil der Arbeit widmet sich zunächst der Frage, wie die Autoren die vom Antisemitismus ausgehenden Gefahren einschätzten. Hier schildert Krah einige beklemmend hellsichtige Diagnosen: etwa jene Constantin Brunners aus dem Jahr 1924, dass es den Antisemiten in letzter Konsequenz um eine "Außerkraftsetzung des gesamten Rechtsstaates" (349) gehe, oder jene Arnold Zweigs aus dem Jahr 1934, durch den Sieg der NSDAP gehe langfristig "der Sinn für die Unantastbarkeit des Lebens verloren" (350). Insgesamt aber konstatiert sie, dass "die Frage nach der konkreten antisemitischen Bedrohung nicht im Zentrum der Antisemitismusforschung vor 1933" (350) gestanden habe. Hinsichtlich der Frage, inwiefern die untersuchten antisemitismustheoretischen Texte rezipiert wurden, konstatiert Krah abschließend ein insgesamt geringes Interesse seitens der deutschen Presse und der Universitäten. Zumindest Brunners, Goldsteins und Zweigs Veröffentlichungen fanden allerdings durchaus einige sowohl kritische wie wohlwollende Besprechungen, sodass die Bücher immerhin "nicht ungelesen in der Versenkung verschwanden" (409).
Insgesamt zeigt Krah überzeugend auf, dass die deutsche Antisemitismusforschung vor 1933 trotz ihrer inneren Widersprüchlichkeit nicht nur die Hochachtung der Nachgeborenen, sondern auch eine größere Aufmerksamkeit der ideengeschichtlichen Forschung verdient. Diesem Verdienst stehen jedoch einige Schwächen gegenüber. So finden sich einige unklare bzw. fragwürdige Aussagen. War, um drei Beispiele herauszugreifen, August Rohlings "Der Talmudjude" tatsächlich die "meistzitierte antijüdische Hetzschrift" (115) des Untersuchungszeitraums? Theodor Fritschs "Antisemiten-Katechismus" (ab 1907 "Handbuch der Judenfrage") erlebte damals jedenfalls bei Weitem mehr Auflagen. Gab es vor 1925 tatsächlich schon eine speziell "nationalsozialistische Rassenforschung" (291)? Falls ja, woran erhebliche Zweifel bestehen, wie sah diese aus und von wem wurde sie betrieben? Und hatte, wie von Krah behauptet, die "antisemitische Bewegung" nach 1918 wirklich "den religiösen Bezug völlig aufgegeben" (119)? Bekanntlich kam, wie Uwe Puschner hinreichend aufgezeigt hat, "arteigenen" Religionsentwürfen in der übergreifenden völkischen Bewegung seit jeher hohe Bedeutung zu. [3] Hinzu kommt, dass Krah vielfach darauf verzichtet, die zitierten Quellen im Fließtext zu datieren, sodass dem Leser dann nur das aufwendige Nachschlagen im Literaturverzeichnis deren zeitliche Einordnung ermöglicht. Darüber hinaus wird die Lektüre dadurch erschwert, dass Krah ihre umfangreiche Quellenexegese nur punktuell durch historische Kontextualisierungen und - leider noch seltener - durch Einbezug etwaiger Nachlassmaterialien, wie sie im Quellenverzeichnis aufgeführt sind, angereichert hat. So fallen die ansonsten spannenden Ausführungen mitunter stark deskriptiv aus und beinhalten einige Längen.
Anmerkungen:
[1] Julius Goldstein: Rasse und Politik, Schlüchtern 1921, 98.
[2] Peter Walkenhorst: Nation - Volk - Rasse. Radikaler Nationalismus im Deutschen Kaiserreich 1890-1914, Göttingen 2011, 101.
[3] Vgl. exemplarisch Uwe Puschner: Religion und Weltanschauung. Völkische Religionsentwürfe und Gemeinschaften im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, in: Jahrbuch der Berliner wissenschaftlichen Gesellschaft 2009, 171-211.
Thomas Vordermayer