Barbara Lutz-Sterzenbach / Johannes Kirschenmann (Hgg.): Zeichnen als Erkenntnis. Beiträge aus Kunst, Kunstwissenschaft und Kunstpädagogik, München: kopaed 2014, 654 S., ISBN 978-3-86736-432-4, EUR 29,80
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Der aus dem gleichnamigen Symposion in München aus dem Jahr 2013 hervorgegangene Sammelband "Zeichnen als Erkenntnis. Beiträge aus Kunst, Kunstwissenschaft und Kunstpädagogik" kontextualisiert das Thema Handzeichnen in den Bereichen bildende Kunst, Bildwissenschaft, Kunstgeschichte, Kunstphilosophie, Pädagogik und Psychologie. Wie die Herausgeberin und der Herausgeber anmerken, ist der Haupttitel "Zeichnen als Erkenntnis" (13f.) bewusst provokativ als These und nicht als Frage formuliert, wobei die Prämisse, dass Zeichnen und Erkenntnis in einem wechselseitigen Spannungsverhältnis stehen, allen Beiträgen - von denen einige bereits publiziert wurden - zugrunde gelegt werden kann.
Historische Beiträge stecken einen Raum phänomenologischer Analyse ab, in dem im weitesten Sinne das Zeichnen als kognitive Fähigkeit gefasst wird, wie z.B. eine Mentalitätengeschichte der Imagination (479) oder Fantasiezeichnungen als Ergebnisse "nicht-intentionaler Denkvorgänge" (34). Technikgeschichtliche Beiträge zeigen z.B. an der Geschichte von Wasserzeichen (559) und der Papierherstellung (74), dass die Geschichte des Zeichnens auch eine Geschichte der Werkzeugverwendung ist. Wissenschaftsgeschichtliche Beiträge untersuchen z.B. Wert und Funktion von Handzeichnungen im Biologieunterricht (575) und Zeichnen in didaktischer Hinsicht als Schulfach (510). Kunstphilosophische Beiträge behandeln Phänomene wie Reiseskizzen (89), Skizzenbücher (548), "Urban Sketching" (542) oder Zeichnen als Werkzeug künstlerischer Forschung (51). Wahrnehmungsphänomenologische Betrachtungen fassen den Zeichenvorgang z.B. kybernetisch als Technik zweiter Ordnung (108) oder verorten die Erkenntnisfunktion beim Zeichnen im Sehen selbst (148). Kunstpädagogische Beiträge beleuchten das "epistemische Potenzial" (14) von Handzeichnen innerhalb von Lern-Lehrsituationen (418, 556), im Mathematikunterricht (582) oder in Bezug auf "räumlich-visuelle Kompetenzen" von Jugendlichen (Zitat 453, 471). Psychologische Beiträge erklären die Zeichenhandlung schließlich auf Basis von Spiegelneuronen (602) und krankheitsbedingten Einschränkungen (617).
Ein Vergleich der Beiträge lässt deutlich die Diskrepanz zwischen Piktorialisten und Deskriptionalisten hervortreten. Positionen mit einer Orientierung zu mentalen Vorstellungsprozessen gewichten die visuelle Vorstellung entsprechend (335, 379, 388). Positionen, die den kreativen Prozess zu fassen versuchen, gewichten die Prozesse und Entwurfshandlungen, in denen visuelle Vorstellungen vorkommen (470). Im Buch gibt es eine Gesamttendenz zum Deskriptionalismus, d.h. die Fragen liegen eher auf der Beschreibung des (zeichnerischen) Denkprozesses selbst, und nicht auf der Beschreibung der Eigenschaften von mentalen Repräsentationen.
Es geht im Wesentlichen um die Frage, ob der Tätigkeit des zeichnerischen Entwerfens eine spezifische Erkenntnisform inhärent ist, oder ob diese Tätigkeit auf ein Feld an (Körper)Techniken [1] zurückgeführt werden kann, wo unterschiedliche Wissensformen wirken. Eine nicht unbedeutende Rolle spielt dabei der Zusammenhang von mentalen Repräsentationen und zeichnerischen Externalisierungen. Die Beiträge werfen eher grundlegende Fragen auf, von denen hier nur jene zum Thema Erkenntnis angeführt sind: "Verstehen Zeichnerinnen und Zeichner Dinge, die sie zeichnen besser?" (vgl. 143), "Zu welcher Erkenntnis kann man durch die zeichnerische Auseinandersetzung mit einem Gegenstand gelangen?" (427), "Welchen Erkenntnisgewinn suchen, erhoffen, vermuten wir bei welchem Zeichnen?" (378), "Wie lässt sich Erkenntnis im Zeichnen in den Künsten, in der Kunstvermittlung und in den Wissenschaften beschreiben?" (vgl. 13) und "Was heißt es, auf Erkenntnis gerichtete Potenziale der zeichnerischen Praxis fördern zu wollen?" (377).
Neben der Kunstgeschichte als zentralem Wissenschaftsfeld spielt die Handzeichnung als Forschungsgegenstand in den Bereichen Architekturtheorie, Diagrammatik, Design Studies, Kognitionsforschung, Technikgeschichte, Wissenschaftstheorie, Laboratory Studies und der Kulturtechnikforschung eine Rolle. Der operative Charakter des manuellen Skizzierens innerhalb von Forschungs- und Entwurfsprozessen gewinnt innerhalb dieser Felder immer stärker an Relevanz, obwohl Handzeichnen mehr und mehr von der Digitalisierung überschattet wird. Monografien, die speziell auch die Erkenntnisfunktion von Zeichnungen thematisieren, stammen z.B. von Eugene Ferguson, Robin Evans, Jonathan Fish, Daniela Goldschmidt, Sybille Krämer, Juhani Pallasmaa oder Peter van Sommers. Daneben gibt es eine Fülle von Untersuchungen, welche dieses Thema in spezielle Bereiche kontextualisieren, wie z.B. Texte von Ellen Yi-Luen Do, Peter Galison, Bernhard Siegert oder Barbara Tversky. Diese Publikation nutzt Erkenntnisse aus den obigen Bereichen für die Kunst, und erweitert so die Felder Zeichnungs- und Gestenforschung.
Die Stärke der Zusammenstellung liegt darin, dass sich die Beiträge intertextuell aufeinander beziehen lassen: Zum einen werden interpretativ Schichten über den Gegenstand des "zeichnerischen Wissens" [2] gelegt. Das kann als Leistung gesehen werden. Die Autoren und Autorinnen umschreiben dann Konzepte, die für die Zeichenhandlungsforschung grundlegend sind, wie z.B. Aspektsehen, fokale versus subsidiäre Aufmerksamkeit, generative Metapher, Hinweisreize, interaktives Erkennen, Kameramodell, Reflexion-in-der-Handlung, Sehen-zeichnen-sehen Zyklus, semantische und syntaktische Dichte, subvokale Sprache oder Zeichnen als Dialog mit ihren eigenen Worten, ohne sich jedoch genau auf Referenzen zu konzentrieren. Zum anderen werden diese eher freien Argumentationen quasi beantwortet von Beiträgen, die genau solche Konzepte erklären und einsetzen. Künstlerische Forschung geht so eine Fusion mit entwicklungspsychologischen, kognitionswissenschaftlichen und pädagogischen Forschungen zum Zeichnen ein. Eine weitere Stärke der Publikation liegt in faszinierenden Forschungsdesigns (333-338, 370-373, 400-403, 453-455, 467-470), darüber wie Zeichnen empirisch untersucht werden kann, ohne sich jetzt nur auf Sprechprotokolle oder Videoanalysen zu beschränken.
Die Arbeiten von Leroi-Gourhan zur Händigkeit sowie seine Thesen zur Entstehung des Grafismus bei Vormenschen spielen in einigen Beiträgen eine zentrale Rolle (40, 58, 340, 431). Speziell seine Thesen zu archaischem Bildgebrauch, Gesten, Sprache und Rhythmik werden gewinnbringend für Theorien zum Handzeichnen übertragen. Z.B. dass der Ursprung des Grafismus nicht im Figürlichen, sondern im Abstrakten liege (43, 57), dass Gesten eben mehr sind als bloße Bewegungen (322, 335, 362, 389, 429), dass Sprechen und Zeichnen ein unglaubliches Korrelationsfeld eröffnen (399, 408) und dass Rhythmik zu einem grundlegenden Merkmal der Zeichenhandlung erhoben werden kann (172). Darin liegen die Stärken dieser Öffnung hin zu seiner Theorie. Haben diese Thesen für die Zeichnungsforschung wahrscheinlich mehr zu bieten als z.B. jene von Frank Wilson, führen die teilweise gewagten und aktualisierungsbedürftigen Arbeitshypothesen in "Hand und Wort" aber auch zu einer eher "philosophischen Vorstellung von der Entwicklung des Menschen" [3] geprägt von Evolutionismus und Strukturalismus, was für die Argumente zu Gestik, Physiologie, Symboltheorie und Technikgeschichte nicht folgenlos bleibt.
Die Beiträge geben Anlass zur Vermutung, dass die Leitdisziplin einer Theorie der Zeichnung die Poietik und nicht die Noetik ist. Zu klären wäre, welche Erkenntnisformen man durch den Modus des Zeichnens zu fassen versucht, bevor Ursachen dafür erforscht werden. Der Sammelband zeigt, dass künstlerische Forschung hier empirische Befunde liefern kann, die eben nicht nur von Experten stammen, die das Zeichnen selbst nicht praktizieren, d.h. Zeichnen sollte auch von denen, die es körpertechnisch vollziehen, wieder neu erfunden werden - in praktischer wie in theoretischer Hinsicht. Denn Zeichnen und das Nachdenken darüber ist eine "Epistemologie der Praxis" [4].
Anmerkungen:
[1] Vgl. hierzu: André Leroi-Gourhan: Hand und Wort. Die Evolution von Technik, Sprache und Kunst, Frankfurt a.M. 1980, 224 und Marcel Mauss: Die Techniken des Körpers, 1934, in: Marcel Mauss: Soziologie und Anthropologie, Band 2, Frankfurt a.M. 1989, 197-220, 199.
[2] Vgl. hierzu: Gert Hasenhütl: Politik und Poetik des Entwerfens. Kulturtechnik der Handzeichnung, Wien 2013, 281-334 und ders.: Zeichnerisches Wissen, in: Kulturtechnik Entwerfen, hgg. v. Susanne Hauser / Daniel Gethmann, Bielefeld 2009, 341-358.
[3] Vgl. hierzu: Barbara Schneider: André Leroi-Gourhan als Ethnologe, München 2005, 23-43, Zitat 141.
[4] Vgl. hierzu: Donald Schon: The Design Studio. An Exploration of its Traditions and Potentials, London 1985, 15 und 20.
Gert Hasenhütl