Rezension über:

Antoni Mączak: Eine Kutsche ist wie eine Straßendirne... Reisekultur im Alten Europa (= Polen in Europa), Paderborn: Ferdinand Schöningh 2016, 237 S., 13 Farb-, 2 s/w-Abb., ISBN 978-3-506-78485-8, EUR 29,90
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Rezension von:
Michael Maurer
Institut für Kunst- und Kulturwissenschaften, Friedrich-Schiller-Universität, Jena
Redaktionelle Betreuung:
Sebastian Becker
Empfohlene Zitierweise:
Michael Maurer: Rezension von: Antoni Mączak: Eine Kutsche ist wie eine Straßendirne... Reisekultur im Alten Europa, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2016, in: sehepunkte 17 (2017), Nr. 9 [15.09.2017], URL: https://www.sehepunkte.de
/2017/09/30078.html


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Antoni Mączak: Eine Kutsche ist wie eine Straßendirne...

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Der anregende und einflussreiche polnische Kulturhistoriker Antoni Mączak (1928-2003) hat sich früh schon mit frühneuzeitlichen Reiseberichten beschäftigt und diese nach umfangreicher Sammlung in europäischen und amerikanischen Bibliotheken und Archiven nach alltagsgeschichtlichen Motiven ausgewertet: Wege und Verkehr, Herbergen und Bewirtung, Reisekosten, Hygiene, Grenzen, Reisegefährten, Instruktionen und gute Ratschläge, Gefahren, Reiselektüre, Gelehrte, Kunst und Künstler, Reliquien, Grenzen des Schicklichen, Maße und Vergleiche, hohe Erwartungen und alltägliche Eindrücke, Früchte der Reisen - so lauten die Kapitelüberschriften, und damit ist eine umfassende Phänomenologie des frühneuzeitlichen Reisens nach Ausweis der Reiseberichte gegeben. Man erkennt daran auch sogleich, dass es sich um eine Verbindung von materiellen Aspekten und geistigen handelt. Die Reisekultur wird also umfassend in den Blick genommen, wenn auch nur auf der Quellengrundlage der Reiseberichte, also nicht der materiellen Relikte und übrigen kulturellen Zeugnisse. Die Quellengrundlage ist so breit, wie sie zu diesem Thema kaum jemals ein Historiker zur Verfügung hatte: Über 250 gedruckte Quellen aus dem 16. und 17. Jahrhundert wurden ausgewertet, dazu noch mehr als 20 unpublizierte Quellen aus Archiven.

Die Art der Darstellung ist ausgesprochen quellennah; es finden sich Hunderte von Zitaten, die gegebenenfalls ins Deutsche übertragen wurden. Mączak umspielt diese Zitate mit seinen Kommentaren und Bewertungen, interpretiert sie und analysiert sie. Es ist ein besonderes Lesevergnügen, der kundigen Hand eines solchen Führers durch entlegene Quellen zu folgen. Obwohl er aus einer unermesslichen Fülle schöpfen kann, verliert er sich nie in den Massen des Materials. Vielmehr sind manche der Themen eher sparsam dargestellt, gewissermaßen als Hinweis auf die Dimension, nicht als erschöpfende Auswertung. Mączaks Darstellung bietet also auch heute noch ein sehr lesbares und lesenswertes Buch über das Reisen im 16. und 17. Jahrhundert anhand einer systematischen Auswertung der Reiseberichte nach den genannten Kategorien.

Freilich muss man sich dessen bewusst sein, dass hier ein älteres Werk erneut zugänglich gemacht wird. Mączak verfolgte seine Reiseforschungen in den 1970er Jahren. Die polnische Ausgabe des Werkes erschien 1978 unter dem Titel Życie codzienne w podróżach po Europie w XVI i XVII wieku, stellt also die Quellengattung Reiseberichte ins Zentrum und offenbart, dass nur das 16. und 17. Jahrhundert im Fokus stehen, während die 1995 unter dem Titel Travel in Early Modern Europa erschienene englische Ausgabe die Reisetätigkeit in den Vordergrund stellt und den Zeitraum unbestimmt weiter fasst. Trotzdem sind alle drei Ausgaben inhaltlich wesentlich identisch (von einigen Kürzungen abgesehen), wenn auch der Titel der deutschen Ausgabe, die um ein Vorwort von Achatz von Müller bereichert wurde, vielleicht andere Inhalte erwarten lässt.

Nimmt man die Neuausgabe unter Würdigung dieser Tatsachen in den Blick, lässt sich Folgendes festhalten: Ein konkurrierendes Werk, welches die Arbeit des polnischen Kulturhistorikers, die ja auch explizit europäischen Zuschnitt hat, in den zurückliegenden Jahrzehnten überflüssig gemacht hätte, ist meines Wissens nicht erschienen. Die Quellenfülle macht nach wie vor Staunen und auch die magistrale Art des Umgangs mit dieser Fülle nötigt dem Rezensenten höchsten Respekt ab. Freilich muss man auch sehen, dass die herangezogene Forschungsliteratur kaum über den Stand von 1978 hinausführt, und das zeigt denn doch die Grenzen dieses Buches auf. Denn in den zurückliegenden Jahrzehnten ist ja nun gerade erst eine höchst rege und vielfältige Reiseforschung in Gang gekommen, wozu Mączak selber durch eine Wolfenbütteler Tagung und den gemeinsam mit Hans Jürgen Teuteberg herausgegebenen Sammelband Reiseberichte als Quellen europäischer Kulturgeschichte [1] wesentliche Anregungen gegeben hat. Das heißt außerdem, dass der Stärke der Quellenauswertung eine gewisse Zurückhaltung gegenüber der Forschungsliteratur gegenübersteht. Man wird also hier nicht mit ephemeren Spekulationen aus modischen Theorien belästigt, muss sich aber auch damit abfinden, dass wesentliche Aspekte der Reisekultur, die in den zurückliegenden Jahrzehnten stärker bewusst geworden sind, hier nicht oder nur unzureichend erfasst wurden. Das gilt beispielsweise für Frauenreisen - ein Thema, das im vorliegenden Werk auf wenigen Zeilen abgehandelt wird, während wir aus neuerer Forschung weit mehr darüber wissen (wenn sich auch begreiflicherweise die meisten Forschungen auf Frauenreisen seit dem 18. Jahrhundert beziehen). Ebenfalls sind konfessionsdifferenzierende Aspekte zwar im Kapitel über Reliquien angesprochen, aber nur unzureichend entfaltet. Das gilt auch für Aspekte wie die Erfahrung von Grenzen, ein Thema, das vom Autor zwar erkannt wurde, aber doch mit wenigen Beispielen nur andeutungsweise behandelt werden konnte. Es gilt vor allem für die Reiseanweisungsliteratur, die Apodemiken, über die wir heute viel genauer Bescheid wissen als Mączak seinerzeit. Und es gilt für sozio-kulturelle Aspekte des Reisens: Waren Reisende der Frühen Neuzeit nicht bestimmt durch vorgeformte Kulturmuster wie jenes der Kavalierstour, der Grand Tour, der obligatorischen peregrinatio academica und Künstlerreise? Inwiefern erwarben sie sich, von der Reise zurückgekehrt, als Gereiste eine angesehenere soziale Stellung als zuvor? Und stellten Reiseberichte, insbesondere gedruckte, nicht als solche schon eine Form der Repräsentation dar, erhoben also einen Anspruch des jeweiligen Autors auf Bildung und Welterfahrung?


Anmerkung:

[1] Antoni Mączak (Hg.): Reiseberichte als Quellen europäischer Kulturgeschichte. Aufgaben und Möglichkeiten der historischen Reiseforschung. Wolfenbüttel 1982 (Wolfenbütteler Forschungen; 21).

Michael Maurer