Marga Voigt (Hg.): Clara Zetkin. Die Kriegsbriefe 1914 bis 1918 (= Clara Zetkin. Die Briefe 1914 bis 1933; Bd. 1), Berlin: Karl Dietz 2016, 559 S., ISBN 978-3-320-02323-2, EUR 49,90
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Steffen Bruendel: Zwischen Nonkonformismus und Überanpassung. Deutschjüdische Künstler und Literaten im Ersten Weltkrieg, Essen: Klartext 2016
Christoph Nübel: Durchhalten und Überleben an der Westfront. Raum und Körper im Ersten Weltkrieg, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2014
Christopher Clark: Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog. Aus dem Englischen von Norbert Juraschitz, München: DVA 2013
Dirk Sieg: Die Ära Stosch. Die Marine im Spannungsfeld der deutschen Politik 1872 bis 1883, Bochum: Verlag Dr. Dieter Winkler 2005
Christian Stachelbeck: Militärische Effektivität im Ersten Weltkrieg. Die 11. Bayerische Infanteriedivision 1915 bis 1918, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2010
Dietmar Willoweit (Hg.): Denker, Forscher und Entdecker. Eine Geschichte der Bayerischen Akademie der Wissenschaften in historischen Portraits, München: C.H.Beck 2009
Jörg Lesczenski: August Thyssen 1842-1926. Lebenswelt eines Wirtschaftsbürgers, Essen: Klartext 2008
Hermann Hage: Amische Mennoniten in Bayern. Von der Einwanderung ab 1802/03 bis zur Auflösung der amischen Gemeinden Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts, Regensburg: Edition Vulpes 2009
Clara Zetkin ist eine Ikone der linken Frauenbewegung, für die eine Emanzipation der Frau im Gegensatz zur bürgerlichen Frauenbewegung nur denkbar war, wenn zuvor eine Emanzipation von der Herrschaft des Kapitals erfolgt ist. Gleichzeitig ist Clara Zetkin eine markante Persönlichkeit der deutschen Linken. Beides bestätigt sich in den Kriegsbriefen 1914-1918, die Clara Zetkin an viele bekannte (u. a. an Lenin) und auch weniger bekannte Genossen und Genossinnen (z. B. an Mitglieder der Familie Geck) im In- und Ausland geschrieben hat. Den Anstoß zur vorliegenden Briefedition gab eine Tagung mit dem Titel "Clara Zetkin in ihrer Zeit" (2007), die der Förderverein für Forschungen zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung und der Rosa-Luxemburg-Stiftung ausrichtete, die auch den Band finanziert hat. Von den 152 Dokumenten, die ediert worden sind, waren vorher nur 47 veröffentlicht. Diese bloße Zahlenangabe verdeutlicht den Wert dieses ersten Bandes, denen weitere mit Briefen bis zu Clara Zetkins Todesjahr 1933 folgen sollen. Die Edition ist umso notwendiger, wenn man weiß, dass große Teile des umfangreichen Nachlasses und des anderweitigen publizistischen Wirkens noch nicht veröffentlicht worden sind. Allein mehr als 1000 Briefe sind beispielsweise für den Zeittraum von 1914-1933 bekannt.
Die Herausgeberin Marga Voigt hat die Briefe gemäß üblichen Maßstäben sorgfältig ediert und mit vielen Anmerkungen zu Personen und Ereignissen kommentiert, um das Umfeld des jeweiligen Briefes zu erhellen. Sie bilden nach Angaben der Herausgeberin einen "wesentlichen Bestandteil" (492) der Edition. Ohne diese Kommentierungen hätten auch kundige Rezipienten so manche Einordnungsschwierigkeiten. Ein ausführliches Orts- und Personenregister erleichtert die Erschließung. Das Personenregister ist angereichert mit Basisdaten zu den aufgeführten Personen. Editorisch lässt sich da nicht viel mehr wünschen.
Vergleicht man jedoch die Edition mit anderen, so verfügt der Band hier nur über einen einzigen Aufsatz mit Einordnungen in größere Fragestellungen und Gesamtzusammenhänge. Es fehlt auch - unüblich - eine einbettende Einleitung. Die Edition beginnt direkt mit dem ersten Brief. Nur am Schluss finden sich im Anhang von der Herausgeberin sechs Seiten "Zu dieser Ausgabe", die vor allem Editorisches enthalten.
Diesen einzigen einordnenden Beitrag hat Jörn Schütrumpf verfasst. Er war Mitarbeiter am Zentralinstitut für Geschichte an der Akademie der Wissenschaften der DDR und ist seit 2003 Geschäftsführer des Karl Dietz Verlages. Der Beitrag steht im sehr heterogenen Anhang und trägt den aussagekräftigen Titel: "Auf dem Weg zu den Bolschewiki". Schütrumpf bestimmt sehr nuanciert und belegreich das Verhältnis Clara Zetkins zu den Bolschewisten. Ein Ergebnis: Clara Zetkin hatte sehr weit gehende Sympathien für die Bolschewisten. Sie billigte auch - verstörend für viele, die in Zetkin eine Ikone vor allem der Frauenbewegung sehen - einen Gutteil der gewaltsamen Aspekte der bolschewistischen Revolution. Dann arbeitet Schütrumpf weiter heraus, dass so manche Ausführungen Zetkins der SED inopportun erschienen und so einiges in den Darstellungen Zetkins in der DDR unterschlagen oder verkürzt dargestellt wurde.
Auf der Basis der Edition lässt sich jetzt genauer die politische Position Zetkins bestimmen, die 1933 ins Exil ging und deren Urne Stalin persönlich zur Kreml-Mauer getragen hatte. Bekanntlich schillert das Bild Clara Zetkins zwischen den Positionen, überzeugte Anhängerin einer sehr gewaltbereiten Linken gewesen oder nur von den Bolschewisten und da insbesondere von Stalin instrumentalisiert worden zu sein. Ihr Tod zu rechten Zeit habe der eigenständigen linken Denkerin den Tod in den stalinistischen Säuberungen erspart.
Solche übergreifend kommentierenden Aufsätze wie den von Schütrumpf hätte man sich mehr gewünscht, und es gibt viele lohnende Fragestellungen, die man an die Kriegsbriefe herantragen kann, auch jenseits von Frauen- und Sozialismusgeschichte, z. B. wie der Kriegsalltag und die Kriegsnöte einen jeden prägten. Auch eine Clara Zetkin trieben die Sorgen um ihre Söhne im Feld um. Sie verschickte sorgsam verpackte Äpfel an Freunde, die in den Hungerzeiten auf dem Postwege verschwanden, ebenso wie die Pakete an ihren Sohn Maxim, der von "zehn Paketen nach zwei Monaten ein einziges bekam" (Briefe an Marie Geck, 73). War es Schikane gegenüber Angehörigen der extremen Linken oder waren solche Unregelmäßigkeiten üblich?
Eine andere verstörende Fragestellung wäre, wie sich Zetkin zu terroristischer Gewalt positioniert. So manches Dokument spricht da eine sehr deutliche Sprache, so. z. B. die "Sympathiekundgebung für Friedrich Adler", der den österreichischen Ministerpräsidenten Karl Graf Stürgkh 1916 ermordete. "In allen Ländern danken Dir Sozialistinnen, sie danken Dir!" (273) Clara Zetkin scheute hier nicht einmal vor religiösen Verbrämungen zurück. Im Zusammenhang mit der über Adler ausgesprochenen Todesstrafe und seinem Leidensweg fällt sogar das Wort "Golgatha". (Die Todesstrafe wurde allerdings nie vollzogen, 1918 wurde Adler amnestiert.)
Die "Sympathiekundgebung für Friedrich Adler" ist im Übrigen kein Kriegsbrief sondern eines von zehn "Dokumenten" - "vor allem nicht bekannte Zeitdokumente aus der Feder von Clara Zetkin" (492) aus den Jahren 1914-1918, die die Herausgeberin als so zentral erachtete, dass sie diese in den Band mit aufgenommen hat. "Die Auswahl traf ich", so die Herausgeberin, "entweder um ihrer Aktivität oder um ihrer Argumentation in den zeitgenössischen politischen Auseinandersetzungen Nachdruck und Nachhaltigkeit zu verleihen und nachzuweisen."(492). Genau an dieser Stelle hätte man sich mehr Ausdrücklichkeit gewünscht, was "Aktivität", "Nachdruck und Nachhaltigkeit" in Bezug auf das Attentat bedeuten.
In die zeitgenössische politische Auseinandersetzung fällt wohl auch die Herausgabe von acht programmatischen Schriften aus anderer Feder im Anhang (Karl Kautsky, Franz Mehring, Juli Martow, Rudolf Breitscheid, Heinrich Ströbel, Wilhelm Düwell, Edwin Hoernle). Man vermutet solche Originaldokumente aus fremder Feder nicht in einer personenbezogenen Briefedition. Sie sind aufgenommen worden, um zeitgenössische Diskussionen zu beleuchten, auf die Clara Zetkin in ihren Briefen und Dokumenten eingeht.
Fazit: Die sorgfältig erstellte Edition der Briefe Clara Zetkins, von der mit den Kriegsbriefen der erste Band vorliegt, ist mehrfach wichtig. Einmal wegen der Bedeutung Zetkins für die Frauenbewegung und gleichermaßen für die Geschichte des Sozialismus. Ihre politischen Positionen lassen sich auf der Basis dieser Quellenedition jetzt genauer bestimmen. Die Edition legt Grundlagen für viele weitergehende Forschungen.
Manfred Hanisch