Rezension über:

Volker Leppin: Die fremde Reformation. Luthers mystische Wurzeln, 2., durchgesehene Auflage, München: C.H.Beck 2017, 247 S., 13 s/w-Abb., ISBN 978-3-406-69081-5, EUR 21,95
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Rezension von:
Martin H. Jung
Institut für Evangelische Theologie, Universität Osnabrück
Redaktionelle Betreuung:
Sebastian Becker
Empfohlene Zitierweise:
Martin H. Jung: Rezension von: Volker Leppin: Die fremde Reformation. Luthers mystische Wurzeln, 2., durchgesehene Auflage, München: C.H.Beck 2017, in: sehepunkte 17 (2017), Nr. 10 [15.10.2017], URL: https://www.sehepunkte.de
/2017/10/30073.html


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Forum:
Diese Rezension ist Teil des Forums "500 Jahre Reformation - I" in Ausgabe 17 (2017), Nr. 10

Volker Leppin: Die fremde Reformation

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Unter dem vielen, was zum Jubiläumsjahr 2017 erschienen ist, gibt es nur weniges, was wirklich Neues bietet. Zu der überschaubaren Zahl der Publikationen, die nicht nur längst Bekanntes wie den Menschen Luther oder die europäische Dimension der Reformation unter dem Mantel des Neuen präsentieren, sondern wirklich einen neuen Zugang zu Luther und zur Reformation wagen, gehört die viel beachtete, aber auch sehr umstrittene Monografie des Tübinger evangelischen Kirchenhistorikers Volker Leppin, in welcher er Interpretationsansätze vertieft und weiterführt, die er schon vor Jahren in seinen Lutherbiografien angelegt hatte.

Leppin provoziert schon auf dem Klappentext des Buches: "Kein Thesenanschlag zu Wittenberg, kein dramatisches Turmerlebnis [...], kein harter Bruch mit dem Mittelalter." Das Buch selbst reiht jedoch nicht provozierende Thesen, sondern entfaltet sachlich und tiefgründig argumentierend eine neue, eine "fremde" und für viele, selbst Fachkollegen befremdliche Sicht auf Luther und die Reformation, indem diese gerade mit dem, was sie angeblich an Neuem gebracht haben, im mittelalterlichen Kontext begriffen werden, während andere Reformationshistoriker weiterhin den Bruch mit der Tradition betonen und mit Luther die Neuzeit beginnen sehen.

Nun, ganz so sensationell, wie viele meinen und der Verlag suggeriert, ist Leppins Ansatz allerdings auch wieder nicht, denn kein Geringerer als Leppins Vor-Vorgänger auf dem Tübinger Lehrstuhl für Spätmittelalter und Reformation, Heiko Augustinus Oberman (1930-2001), der von Leppin leider nur ganz am Rande erwähnt wird (239), hatte Luthers Genese und Denken ebenfalls aus dem Mittelalter heraus zu verstehen versucht. Und viele katholische Theologen sagen ohnehin schon immer: Alles, was Luther gesagt hat, findet sich irgendwo und irgendwie auch schon im Mittelalter. Neu bei Leppin ist allerdings die Zuspitzung auf die Mystik. Neben ihr greift Leppin ferner die - in der Forschung umstrittenen - theologiegeschichtlichen Kategorien der "Demutstheologie" (Ernst Bizer, Martin Brecht), der "monastischen Theologie" (Ulrich Köpf) und, besonders häufig, der "Frömmigkeitstheologie" (Berndt Hamm) auf (119; 214; 20, 62, 105 ...). Auch hier werden die jeweiligen Protagonisten nur teilweise und nur im Anhang in den Anmerkungen genannt.

Das theologisch anspruchsvolle, aber dennoch sehr gut zu lesende Buch entfaltet in einzelnen Schritten Luthers persönliche, religiöse und theologische Entwicklung und bringt nahezu alle zentralen reformatorischen Ideen und Forderungen mit Traditionen in Zusammenhang, die sich schon in der mittelalterlichen Mystik oder anderen mittelalterlichen Kontexten (z.B. auch den Gravamina nationis Germanicae) finden. In darstellerisch glänzender Weise verknüpft Leppin Luthers geistige und geistliche Entwicklung ferner mit der Geschichte der Reformation im Allgemeinen und kommt so sogar auf Franz von Sickingen und seinen Ritteraufstand sowie auf die Täufer und ihren Sonderweg zu sprechen. Sein Werk ist somit mehr als ein Lutherbuch, sondern eine kleine Reformationsgeschichte, wie auch der Titel anzeigt, wo wohl bewusst nicht Luther, sondern die Reformation im Vordergrund steht. Freilich konzentriert sie sich, wie viele andere Reformationsdarstellungen auch, auf die Frühzeit, also auf die Zwanzigerjahre.

Leppins so ganz andere Sicht auf Luther ist nicht ökumenisch motiviert, sondern kommt letztlich aus seiner Wissenschaftslaufbahn, die in der theologischen Mediävistik begann. Gleichwohl ist seine Sicht ökumenisch relevant und bietet für das 2017 vielerorts sehr rege gewordene ökumenische Gespräch über Luther eine neue wissenschaftliche Basis. Leppins Luther trennt nicht Protestanten und Katholiken, sondern verbindet sie.

Natürlich stellen sich Fragen: War das päpstliche Ketzerurteil von 1520/21 nur ein Versehen? Hat die katholische Kirche Luther über Jahrhunderte verkannt? Haben die Gegner nur irrtümlich, fälschlich von einer "neuen" Lehre und einem "neuen" Glauben gesprochen?

Auch Leppin ringt um die Frage, wie sich radikaler Widerspruch und überdimensionaler Erfolg eigentlich erklären lassen, wenn doch im Kern nichts Neues geboten war. Es finden sich Formulierungen wie: "Das Geheimnis Luthers liegt [...] in der Mischung aus Bestätigung von Vertrautem und eigenwilligen Akzentsetzungen [...] (131)." Oder: "Die Impulse Luthers gaben vorhandenen Regungen Schub und Konzentration [...] (142)." Und zur Adelsschrift: "Sie [...] verband [...] geschickt kirchenpolitische mit theologischen Fragen." (148) Resümee: "Luther passte in die Stimmung, griff sie auf und verstärkte sie." (150) Aber erklärt das wirklich den Erfolg und den Widerspruch? Ich meine: nein.

Leppins Ansatz kann vieles, aber nicht alles erklären. Auch wenn sich in Luthers Denken "mystische Wurzeln" entdecken lassen, derer er sich selbst möglicherweise gar nicht bewusst war, so war er dennoch kein "Mystiker"; interessanterweise bevorzugt Leppin das weniger verbindliche Adjektiv, an wenigen Stellen findet sich aber auch das prägnante Substantiv (93, 205). Luthers Sprache, gespickt mit Polemik, war nicht die Sprache eines Mystikers. Sein Lebensstil in Wittenberg von 1525 bis zu seinem Tod war nicht der eines Mystikers. Das öffentliche Auftreten Luthers von 1517 (Thesen) bis 1537 (Bundesversammlung in Schmalkalden) war nicht das Auftreten eines Mystikers. Und Reformanliegen wie Laienkelch und Priesterehe oder Mädchenschulen und Pfarrerwahl - oder Luthers Gedanken zum Sexualleben - lassen sich wohl kaum aus der Mystik erklären.

Und wenn Leppin sogar die Vorstellung, dass die abendländische Christenheit "erst durch die Reformation zur Heiligen Schrift zurückgeführt", wurde als "irrig" bezeichnet und auf den bibelbegeisterten Staupitz verweist, schüttet er doch das Kind mit dem Bade aus. Sicher war die Bibel nicht vergessen, aber sie spielte weder in der Theologie noch in der Kirche die Rolle, die ihr die Reformation neu zusprach. Die Reformation hat den Umgang mit der Bibel revolutioniert: Übersetzung aus dem Urtext, Verbreitung in einem verständlichen Deutsch, Verbreitung im Volk, Grundlage der Theologie und der Predigt, Auslegung nach dem Wortsinn, Kanonkritik, Sachkritik - kein Kompendium des Weltwissens (Weltbild - Kopernikus!), sondern des Heilsrelevanten. Die römisch-katholische Kirche konnte sich bekanntlich erst im 20. Jahrhundert dazu durchringen, Luther an diesem Punkten nachträglich Recht zu geben.

Fazit: ein sehr lesenswertes, unbedingt zu empfehlende Buch, das zum Nachdenken zwingt, aber - gerade im Jahr 2017 - auch zum Widerspruch herausfordert. War der 31. Oktober wirklich "ein innermittelalterliches Ereignis" (60)? Ich und viele sehen das anders. Um im Bild zu bleiben: Mag der Baum Martin Luther "mystische Wurzeln" haben - Leppins Fakten sind nicht zu bestreiten -, so sind sein Stamm und seine Zweige doch über die Mystik und das Mittelalter hinausgewachsen und haben, mit anderen Bäumen zusammen, eine neue Landschaft gestaltet, die weiterhin mit Recht als eine neue Zeit zu bezeichnen ist.

Das Buch ist mit einem hilfreichen Personenregister ausgestattet, auf ein Verzeichnis der verwendeten Literatur wurde aber leider verzichtet.

Martin H. Jung