Timothy Snyder: Black Earth. Der Holocaust und warum er sich wiederholen kann. Aus dem Englischen von Ulla Höber, Karl Heinz Siber und Andreas Wirthensohn , München: C.H.Beck 2015, 488 S., 24 Ktn., ISBN 978-3-406-68414-2, EUR 29,95
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
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Auch über siebzig Jahre post factum ist die gesellschaftliche Bewältigung und historische Erforschung des Holocausts noch nicht abgeschlossen. In 'Black Earth' mahnt Timothy Snyder daher: "Die genaue Kombination von Ideologie und Umständen des Jahres 1941 wird nicht wiederkehren, aber so etwas Ähnliches vielleicht schon" (xiii). Inspiriert haben den amerikanischen Osteuropa-Historiker aktuelle Krisen, wie die Besetzung der Krim und der Zerfall des Iraks, der Klimawandel und die daraus resultierenden Kämpfe um natürliche Ressourcen. Ähnlich apokalyptisch hätten Zeitgenossen auch die Zeit vor Adolf Hitlers Machtergreifung empfunden. Snyder sieht sich folglich nicht nur als Chronist des Völkermordes, sondern auch als Mahner für Gegenwart und Zukunft.
Der Verfasser konzentriert sich auf den Zeitraum 1918-1945. Die Umschreibung der Region mit 'Black Earth', was den fruchtbaren Boden der Ukraine bezeichnet, greift zu kurz: Die Studie umfasst nicht nur das historische Ruthenien, sondern das gesamte Gebiet zwischen Oder, Baltikum und Schwarzem Meer, welches sowohl die Wehrmacht als auch die Rote Armee okkupierten. In seinem letzten Buch hatte Snyder diese Region der Doppelokkupation wegen noch als 'Bloodlands' (2010) bezeichnet. Die vorliegende Umbenennung begründet er mit seiner umweltgeschichtlichen Aufwertung des Kampfes um Ressourcen und Lebensraum, eine der mehrfach beschworenen Parallelen zu heute.
Die Monografie gliedert sich in zwölf Kapitel (zuzüglich Einleitung und Schlussfolgerung). Die Schlüsselargumente finden sich in "The State Destroyers" (Kapitel 4) und "Double Occupation" (Kapitel 5). Der Verfasser stellt die These auf, dass die Überlebenschancen für Juden dort am größten gewesen seien, wo der Staat und die staatliche Souveränität intakt blieben. Darum seien Diplomaten am ehesten in der Lage gewesen, als Retter zu agieren. Das Gegenbeispiel, Ungarn, wo fast eine halbe Million Juden noch unter Staatsoberhaupt Miklós Horthy größtenteils von der ungarischen Staatsbürokratie gettoisiert, deportiert und ermordet wurden, tut Snyder ab: Ungarns Souveränität sei schon im Frühjahr 1944 kompromittiert gewesen (237). Weitere Gegenbeispiele wie Frankreich oder die Niederlande tauchen gar nicht auf. Dabei ist eines längst erwiesen: Im besetzten Europa haben alle verbliebenen Staatsapparate (mit der Ausnahme Bulgariens) kollaboriert.
Besonders Polen zieht Snyder zur Beweisführung heran: Sowohl das nationalsozialistische Deutschland als auch die Sowjetunion hätten der Republik mit dem Molotov-Ribbentrop-Pakt vom 23. August 1939 die Existenzberechtigung abgesprochen. Polen war in der Zwischenkriegszeit die entscheidende Regionalmacht gewesen, ein Dorn im Auge Moskaus und Berlins, den man zunächst gemeinsam entfernen wollte (Kapitel 2). Indem beide Besatzungsregime staats- und gesellschaftstragende Eliten liquidierten, ebneten sie den Weg zu Holocaust und Kollaboration. Eben wegen der Zerstörung des Staates habe es hier die meisten Opfer gegeben und wurden hier die Vernichtungslager gebaut.
Snyder insistiert, dass erst die Zerstörung staatlicher Souveränität die Bedingungen zur systematischen Vernichtung von Europas Juden geschaffen habe. Unerwähnt bleibt, dass erstmals bei der Besetzung des ehemaligen zarischen Ansiedlungsrayons deutsche Truppen mit einem zehn- bis zwanzigprozentigen jüdischen Bevölkerungsanteil konfrontiert waren. Als Antwort darauf beschlossen führende Vertreter der Partei- und Ministerialbürokratie auf der Wannsee-Konferenz im Januar 1942 die "Endlösung" der "Judenfrage". Am Wannsee wurde der Holocaust konzipiert. Diesen Zusammenhang, bekannt seit Raul Hilbergs 'The Destruction of European Jews' (1961), macht Snyder nicht deutlich.
Ereignisse und Entwicklungen in Deutschland vor 1939, die als Schritte in Richtung der systematischen Vernichtung gelten, sind für den Verfasser nachrangig. Weder die Konzentrationslager, in denen seit 1933 politische Gegner, Roma, Sinti und Homosexuelle systematisch interniert und eliminiert wurden, noch die Aktion T4, bei der Gas zur Massentötung erstmals ausprobiert und eingesetzt wurde, finden Erwähnung. Selbst den Nürnberger Rassengesetz von 1935, die zur systematischen Ausgrenzung der deutschen Juden führten und somit als Vorstufe zu Dehumanisierung und Holocaust zu verstehen sind, misst der Verfasser wenig Belang bei.
Andererseits stellt Snyder in "The Grey Saviors" und "The Rigtheous Few" (Kapitel 10 und 12) seine eigene Hauptthese von staatlicher Souveränität als alleiniger Schutzmacht jüdischer Mitbürger in Frage: Die dort erwähnten Retter und ihre Motivationen belegen, dass auch ohne staatliche Strukturen Rettung möglich war. Es gab eben doch, wenn auch zu wenige Aufrichtige.
In den weiteren Kapiteln verfolgt der Verfasser verschiedene Thesen und Themen. Das erste beschäftigt sich beispielsweise mit Hitler, Hitlers Sorgen, Hitlers Ideen, Hitlers Visionen. Es sei essenziell, die Gedankenwelt des "Führers" zu verstehen. Dabei stellt er irritierende Behauptungen auf: Zum Beispiel sei Hitlers wahre, "geheime Sorge" (13) die deutsche Hausfrau gewesen - sie habe von den Nazis den Komfort eines Kolonialreiches wie vor 1914 eingefordert. Denkt man diesen Ansatz weiter, dann hat anscheinend eine nach kolonialer Größe gierende deutsche Hausfrau Hitler zum Kampf um Lebensraum gedrängt. Zudem unterstellt Snyder, Hitlers größter Vorwurf an die Juden sei gewesen, sie hätten die Menschheit mit wirren Vorstellungen von menschlicher Solidarität verweichlicht. Dabei betont und beschwört Hitler in 'Mein Kampf' (1925) und 'Das Zweite Buch' (1928) doch eher die "jüdische Weltverschwörung", "jüdische Geldgier" oder den "jüdischen Bolschewismus".
Die im Titel angekündigten Lektionen formuliert der Autor in der Schlussfolgerung, in der Snyder einen weiten Bogen vom Lebensraum über krankmachende Mikroben zum Klimawandel, vom Völkermord in Ruanda zur Weltmacht China und Vladimir Putins Russland schlägt. Um ähnliche Gefahren zu erkennen, die die gesamte Welt aushebeln könnten, dürfe man Hitler nicht einfach als wirren Antisemiten oder Rassisten abtun; "seine Vorurteile" seien "Auswüchse einer kohärenten Weltanschauung" gewesen, "die das Potenzial hatten, die Welt zu verändern" (321).
Diejenigen, die mit dem bisherigen Werk von Snyder vertraut sind, werden wesentliche Aspekte aus 'The Reconstruction of Nations. Poland, Ukraine, Lithuania, Belarus, 1569-1999' (2003) und 'Bloodlands' wiedererkennen. Die Adressaten von 'Black Earth' sind primär amerikanische Leser. Behauptungen wie "Wir denken als erstes an deutsche Juden, aber fast alle getöteten Juden lebten außerhalb Deutschlands. Wir denken an Konzentrationslager, aber nur wenige der ermordeten Juden haben je eins gesehen" (xii) werden ein deutsches Publikum irritieren.
Snyder hat sich zum Ziel gesetzt, das östliche Europa aus dem toten Winkel des Kalten Krieges herauszuholen. Bis heute prägt der Fokus auf Westeuropa und das übermächtige Russland die amerikanische Öffentlichkeit. Die beabsichtigte historische Verortung der Region ist dem Verfasser früher überzeugender gelungen. Ohne den heutigen politischen Rahmen und aktuelle Sorgen um globale Krisenherde lässt sich der Ansatz in 'Black Earth' nicht verstehen. Ob der Holocaust für Warnungen vor failed states und Klimawandel herangezogen werden muss, ist fraglich. Auf die öffentliche Resonanz und Wirkkraft dieses Buches in Deutschland darf man gespannt sein.
Victoria Harms