Hannah Maischein: Augenzeugenschaft, Visualität, Politik. Polnische Erinnerungen an die deutsche Judenvernichtung (= Schnittstellen; Bd. 2), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2015, 636 S., 112 s/w-Abb., ISBN 978-3-525-30074-9, EUR 89,99
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Der nationalsozialistische Judenmord im deutsch besetzten Polen stand hierzulande lange im Schatten des Forschungsinteresses. Institutionen, die aufgerufen gewesen wären, sich dieses Themas anzunehmen, hielten sich bis in die 1990er-Jahre davon fern. Noch heute gehen Impulse für neue Veröffentlichungen von Einzelpersonen aus, daneben aber auch zunehmend von Hochschulinstituten. Die Dissertation von Hannah Maischein über den Diskurs, wie Polen sich selbst als Augenzeugen des Judenmords wahrgenommen haben, ist 2014 an der Universität München verteidigt worden.
Die 70-seitige Einleitung behandelt das Thema "Polen als Augenzeugen", umreißt den Untersuchungsgegenstand, den Aufbau der Studie und die Perspektive der Verfasserin. Sie möchte aufzeigen, "wie sich die Funktion von Zeugenschaft im westlichen im Vergleich zum polnischen Erinnerungsdiskurs des nationalsozialistischen Judenmords entwickelt hat" (20). Dafür werden im ersten Teil "die Bedingungen für den westlichen Augenzeugen-Diskurs [...] erarbeitet", während der zweite Abschnitt eine "empirische Untersuchung des visuellen Erinnerungsdiskurses in Polen" bietet (20). Dabei begreift die Kulturwissenschaftlerin Augenzeugenschaft als gleichermaßen mediales wie historisches Phänomen, und sie möchte einen allgemeingültigen methodischen Ansatz zur Erforschung von visuellen Erinnerungsdiskursen vorstellen.
Der erste Teil über den "westlichen Erinnerungsdiskurs" (Augenzeugenschaft: Konzept und Diskurs) begründet Polens Sonderrolle, versinnbildlicht in Aufnahmen aus Claude Lanzmanns Dokumentarfilm "Shoah", der das "negative Image der polnischen Anwohner im Westen geprägt" habe (121). Die Normen des europäischen "Holocaust-Diskurses" könnten - so Maischein - "nicht als Maßstab für die Untersuchung der polnischen Erinnerung dienen" (157).
Über den Wandel des "Anwohners" des nationalsozialistischen Judenmords zum Augenzeugen wurde - so die Autorin - in den Nachkriegsjahren "Identifikation mit der Nation [...] geschaffen" (24). Sie unterscheidet hier drei Phasen: die Jahre der kommunistischen Machtübernahme von 1944 bis 1948, als die Funktion der Augenzeugen bestimmt wurde, die Zeitspanne vom Ende des Stalinismus in der Mitte der 1950er-Jahre bis Mitte der 1970er-Jahre, in der sich eine nationalkommunistische Interpretation durchsetzte, sowie die dann folgenden Jahre, in denen es zu einer "zunehmend kritischen Reflexion des Polen-Bilds" gekommen sei (27).
Maischein zielt somit darauf ab, "die Bedeutungen der Augenzeugenschaft für die polnische nationale Identität" nach 1945 zu ergründen (32). Im Folgenden werden "Selbstbilder, in denen sich Polen rückblickend als Augenzeugen darstellen", anhand von visuellen "Darstellungen" und "Repräsentationen" untersucht, in denen sich "die polnischen Wahrnehmungsweisen der Augenzeugenschaft in materialisierter Form" wiederfänden (23, 52). Sie sind hier in Gestalt von kleinformatigen Schwarz-Weiß-Abbildungen wiedergegeben, darunter von der Zentralen Jüdischen Historischen Kommission im Jahr 1947 veröffentlichte Fotos, die den Zustand auf dem von "Goldgräbern" geschändeten früheren Lagergelände in Treblinka dokumentieren, Aufnahmen von Kunstwerken unterschiedlicher Art, nicht zuletzt von aussagekräftigen Szenen ausgewählter polnischer Spielfilme. Für die Nachkriegsentwicklung hält die Autorin fest, dass diese mit dem verengenden "Ausschluss jüdischer Positionen aus dem polnischen Erinnerungsdiskurs" einherging (531).
Augenzeugenschaft umfasst hier zu Recht die gesamte, von der Geschichtsforschung bestätigte Bandbreite, wonach die Zeugen aus Polen "als Opfer, Täter und Helfer" in Erscheinung traten (391). Am Ende stellt die Verfasserin fest, dass durch das sinnstiftende Zeugnisablegen in erzählender Form, das "auf dem universalen ethischen Prinzip der Wahlmöglichkeiten zwischen Gut und Böse basiert und die Trennung der historischen Rollen von Opfern, Tätern und Zuschauern aufhebt, [...] die polnischen Augenzeugen in die westliche Interpretation eingeordnet werden [können]" (519).
Nicht immer mag die Begrifflichkeit zu überzeugen - und dies gilt schon für den sperrigen Buchtitel. Und haben wir es - wie es der Untertitel nahelegt - im besetzten Polen tatsächlich mit einer "deutschen Judenvernichtung" zu tun? Die Rede von der "Judenvernichtung" führt uns unnötigerweise in die Niederungen nationalsozialistischer Diktion, war das NS-Regime doch erklärtermaßen auf die "Vernichtung des Judentums" aus. Wollte man die hier verwendeten, vermeintlich so klaren ethnischen Zuschreibungen gelten lassen, müsste man nicht mit zumindest gleicher Berechtigung von einer "österreichischen Judenvernichtung" sprechen, da doch Österreicher in Schlüsselpositionen dafür verantwortlich waren (Adolf Hitler, Adolf Eichmann, Odilo Globocnik, Irmfried Eberl, Hermann Höfle, Ernst Lerch, Friedrich Lex, Helmut Ortwin Pohl, Franz Stangl, Albert Ulrich u.v.a.)? Manche Feststellungen sind fragwürdig. So sind die Morde an polnischen Offizieren bei Katyn nicht von der "Roten Armee", sondern von Mitarbeitern des NKVD begangen worden (179). Dass Majdanek 1944 als "Lubliner Lager" bezeichnet wurde (181), ist nicht nur auf Propagandazwecke zurückzuführen, denn das deutsche KZ wurde am Stadtrand von Lublin errichtet. Dass das Lager Kulmhof und die drei Vernichtungslager der "Aktion Reinhardt" "zum Großteil seit 1943 nicht mehr intakt waren" (184), ist nicht richtig; nur Bełżec war im Dezember 1942 stillgelegt worden. Unverständlich ist ferner, warum die Verfasserin Aussagen der zeitgenössischen polnischen Tagespresse - und Forschungsarbeiten darüber - ausklammert, obgleich gerade sie die damaligen Diskurse unverstellt widerspiegeln; die Muster kollektiver Erinnerung, die sich bereits unter der deutschen Okkupation wie auch in den unmittelbaren Nachkriegsjahren herausbildeten, bewiesen ein enormes Beharrungsvermögen. Gewiss ist der Autorin zuzustimmen, wenn sie schreibt, "dass die nationalsozialistische Definition der Opfer die Art des inoffiziellen Erinnerns" an die Konzentrations- und Vernichtungslager in Polen ganz erheblich "prägte" (186).
Am Schluss möchte man der Verfasserin wünschen, dass sich die Hoffnung erfüllen möge, ihre Ausführungen über die polnische Wahrnehmung dessen, was "im Westen" als Holocaust verstanden wird, könne einen Anstoß zur Reflexion der westlichen Perspektive liefern (23). Wie Maischein - offenbar aufgrund ihrer Erfahrungen mit den Reaktionen von Menschen in Polen - ausdrücklich betont, verfolge ihre "Kritik am polnischen Selbstbild als Augenzeugen" keine "anti-polnischen" Absichten, vielmehr gehe es ihr um "eine Form kultureller Übersetzung von Selbst- und Fremdwahrnehmung", mit deren Hilfe sich "ein Beitrag zur Verständigung" leisten lasse (543).
Dieser müsste allerdings von historisch-politischer Bildungsarbeit flankiert werden. Unterdessen haben sich die politischen Rahmenbedingungen dafür, dass ein solches Angebot diesmal genutzt wird, in Polen neuerdings eher verschlechtert.
Klaus-Peter Friedrich