Felix Heinzer / Thomas Zotz (Hgg.): Hermann der Lahme. Reichenauer Mönch und Universalgelehrter des 11. Jahrhunderts (= Veröffentlichungen der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg. Reihe B: Forschungen; Bd. 208), Stuttgart: W. Kohlhammer 2016, X + 345 S., ISBN 978-3-17-030723-0, EUR 34,00
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Der Band vereinigt die um weitere Beiträge ergänzten Vorträge der 2013 im Kloster Weingarten veranstalteten Tagung, die an den Geburtstag Hermanns des Lahmen (*18.7.1013-24.9.1054) vor 1000 Jahren erinnerte. Versammelt wurden Studien zu Leben und Werk einer Extrem-Persönlichkeit, die in der heutigen Wissenschaft aufgrund der vermeintlichen Heterogenität ihrer Interessen als Herausforderung begriffen wird. Fachwissenschaftler unterschiedlicher Disziplinen charakterisieren in vier verschiedenen Sektionen einerseits die soziale Vernetzung und andererseits die Denkhorizonte des im Kloster Reichenau arbeitenden Mannes aus nicht unbedeutender Familie, dessen Behinderung bis heute im Beinamen thematisiert wird, nicht aber seine Gelehrsamkeit.
In einem ersten Themenblock werden biografische Daten, die Familie, der Lebensraum, die Problematik der Körperdefizienz und der Nachruhm einer erneuten Durchsicht unterzogen (Thomas Zotz, Walter Berschin, Helmut Maurer, Felix Heinzer, Wolfgang Augustyn). Die autobiografischen Informationen aus Hermanns eigenem Werk und die Würdigung Bertholds von der Reichenau stellen die zentrale Mitte der auf die konkrete Biografie zielenden Erinnerungskultur dar. In den weiteren Kapiteln folgen Beiträge zu Hermann als historiographus (Hans Werner Goetz, Heinz Krieg), als poeta (Felix Heinzer, Eva Rothenberger, Bernhard Hollick) und als musicus et artista (Michael Klaper, Menso Folkerts, David Juste, Immo Warntjes). Steffen Patzolds Aufgabe war es schließlich, ausgehend von den Tagungsbeiträgen auf gut 10 Druckseiten in einer Zusammenfassung Bilanz zu ziehen und Autor wie Mensch zeitbezogen zu würdigen. Beigegeben wurden mehrere instruktive Karten (auch zum Verlauf der Sonnenfinsternis 1033), Schaubilder, Tabellen und Abbildungen aus den Handschriften der Werke Hermanns oder Testimonien seines Nachruhms. Ein Orts- und Personenregister beschließen den Band. Dass kein Handschriftenverzeichnis beigegeben wurde, sei ausdrücklich bedauert.
Die Zerlegung der Gelehrtenpersönlichkeit in verschiedene Teilbereiche (325) basiert auf der Zuweisung zu den Fachdisziplinen und verhindert es ein weiteres Mal, die im hochmittelalterlichen Bildungshorizont selbstverständliche Zusammenführung der septem Artes liberales umfänglich zu würdigen. Die Grundausbildung war auch im 11. Jahrhundert noch den spätantiken Prinzipien verbunden, die keine Ausdifferenzierung in Geisteswissenschaften und Naturwissenschaften kannten. Gemäß der karolingischen Bildungsreform versuchten die Gelehrten ausgehend vom antiken Bildungssystem die Einheit göttlicher Schöpfung in den verschiedenen Ausprägungen aufzuzeigen und zu durchdringen. Ein prägender Vermittler war auch für Hermannus Contractus der Fuldaer Gelehrte Hrabanus Maurus. Die Bibliothek des Klosters Reichenau schuf eine wichtige Voraussetzung. Die Breite von Hermanns Interessenfeldern war zeitgebunden und am gängigen Lehrbetrieb orientiert. Seine historiografische Tätigkeit war vom Abt des Klosters angeregt. Die Individualität und Genialität, mit denen sich Hermann diesen Aufgaben stellte, arbeiten die Beiträge des Bandes anschaulich heraus.
In mehreren Aufsätzen wird die kompilatorische Form der Gelehrsamkeit vorgeführt, der es weniger auf innovative eigene Ansätze als auf die reflektierende und prüfende Zusammenschau und Verarbeitung bisheriger Wissenshorizonte ankam. Hermann fungierte als Wissensorganisator und Schaltstelle im Wissenstransfer. Damit verbunden war auch die Loslösung von nicht mehr überzeugenden älteren Wahrheiten, was wichtige neue Freiräume für den Fortschritt im Denken innerhalb einer auf Autoritäten basierenden Wissenskultur schuf. Der geniale Gelehrte kann als Spiegel mittelalterlicher Klosterkultur fungieren. Die pragmatische Ausrichtung des Wissens auf die Osterfestberechnung und das Verstehen heilsgeschichtlicher Abläufe war nicht nur bei Hermannus Contractus verbunden mit philosophischen und ästhetischen Qualifikationen der Bildungseliten, die den Ruhm des Christentums und die Möglichkeit eigener Gottgefälligkeit im Auge hatten. Vergleiche mit Gerbert von Aurillac, Abbo von Fleury und Fulbert von Chartres finden sich im Band punktuell. Hermanns Sinn für spielerisches Lernen etwa von komplexeren Rechenschritten (vgl. den Beitrag von Menso Folkerts 243-258), wie sie für den übergeordneten Zweck der Berechnung des Ostertermins förderlich waren, dürfte die Basis für die Hochschätzung innerhalb seines Schülerkreises gewesen sein, die bis heute das Rezeptionsverhalten bestimmt.
Anders als bei einer monografisch präsentierten Biografie erschließt sich dem Leser keine Entwicklungsgeschichte der Persönlichkeit mit Ungleichzeitigkeiten und Lücken. Unsicher bleibt noch immer, was Hermann von den ihm seit dem Mittelalter zugeschriebenen Werken tatsächlich zuzuweisen ist, noch unklarer, wann ihn welche Fragen beschäftigten und in welchen Zeithorizonten die Werke entstanden sind. Erfassbar wird für den Leser am Beispiel Hermanns aber die Formung eines Persönlichkeitsbildes durch verehrende Tradition, gerade weil die Dekonstruktion dieses Bildes mithilfe wissenschaftlicher Forschung im Band nicht gescheut wurde.
Auf der Grundlage der im Band vorgelegten Zusammenschau wird die Bedeutung dieses Mannes in der europäischen Geistesgeschichte erkennbar. Die Urteile mittelalterlicher Bewunderer, die Hermann als a Deo doctus oder als nostri miraculum secli priesen, lassen erahnen, dass es Hermann um die Suche nach Gott in der erfahrbaren Welt ging, wofür gleichermaßen das Verständnis von Welt und menschlichem Handeln wichtig waren. Die Grundthese seiner theologischen Anthropologie erkennt Bernhard Hollick in der Aussage, dass "das Leben des Fleisches der Geist, das Leben des Geistes Gott" sei (198f.). Hermann stellte sich anscheinend den Zweifeln am bisherigen Welt- und Gottesverständnis, wie es bei den Anfängen der Katharer-Bewegung in Europa an die Oberfläche trat.
Hermann war nach dem Urteil der Zeitgenossen zweifelsohne ein Meister der Artes liberales im voruniversitären Schulbetrieb. Sein Nachruhm wurde durch das Lob in der Berthold-Chronik und im 20. Jahrhundert durch Arno Borst gefestigt. Ihn anlässlich des Jubiläums erneut zu würdigen, hat sich deshalb sehr gelohnt, weil in den Beiträgen nicht nur seine Schriften interpretiert werden, sondern sein Schaffen vielfach in die Entwicklungsgeschichte der Teildisziplinen eingeordnet wurde. Dadurch erweist sich der Band als Tür für die Geistesgeschichte des 11. Jahrhunderts und ihre Rezeption. Mit Steffen Patzold lässt sich zudem resümieren, dass der Band nicht nur etwas über den Gelehrten der Reichenau des 11. Jahrhunderts, sondern auch über die Denkhorizonte des beginnenden 21. Jahrhunderts aussagt (337).
Heike Johanna Mierau