Ludwig Fischer: Brennnesseln. Ein Porträt (= Naturkunden; 32), Berlin: Matthes & Seitz 2017, 168 S., zahlr. Abb., ISBN 978-3-95757-407-7, EUR 18,00
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Wenig beachtet, meistens sehr gescheut, fristet heute die Brennnessel ein eher unbeachtetes Leben, denn wer mit ihr in Berührung kommt, wird heftig mit toxischen Stoffen angegriffen, also gestochen oder gebrannt. Dennoch verdiente diese ungemein weitverbreitete und insgesamt gesehen doch sehr nützliche Pflanze viel mehr Anerkennung, denn es handelt sich keineswegs einfach um Unkraut, das man am liebsten beseitigen möchte. Das mit großer Liebe gestaltete kleine Büchlein Ludwig Fischers erweist sich schnell als eine ausgesprochen interessante Studie, die in ungewöhnlicher Weise naturkundliche mit historisch-literaturwissenschaftlichen Aspekten verbindet und zugleich literarische Ansprüche hegt, was die Lektüre insgesamt spannend und anregend macht. Hier liegt eine kulturhistorisch wertvolle Studie vor, die persönliche Erfahrungen mit historischen, kulinarischen, medizinischen, literarischen und kunsthistorischen Erkenntnissen kombiniert.
Der sehr vielseitige Autor (sowohl [emeritierter] Germanist als auch Kräuterexperte) präsentiert sich zunächst selbst als Gärtner, der den Wert der Brennnessel für sich entdeckte, sei es als Spinatersatz, sei es als Produzent von wichtigen nahrhaften Stoffen, sei es als Futterquelle für eine Vielzahl von Raupen und anderen Lebewesen. Warum aber sollte die Brennnessel so viel Aufmerksamkeit auf sich lenken? Wie Fischer sehr schnell deutlich zu machen versteht, handelt es sich dabei um eine wichtige Kulturpflanze, die schon immer in der Nähe von Menschen existiert hat und bereits in der Steinzeit, dann in der Antike und durch das Mittelalter hinweg für verschiedene Zwecke gebraucht wurde, auch wenn im Laufe der Zeit mythische Vorstellungen die Brennnessel in negatives Licht rückten (siehe 'Nesselhemd' für Büßer oder Verurteilte), so jedenfalls in Europa, während etwa in buddhistischen Bereichen diese Pflanze erheblich positiver beurteilt wurde.
Fischer macht auf die Etymologie des Namens in seinen sehr vielen Varianten aufmerksam, bietet dann umfangreich botanische Erklärungen, um sich darauf der langen Geschichte der Nutzung der Brennnessel weit bis ins späte 18. Jahrhundert als Rohstoff für Textilien zu widmen. Entgegen unserer generellen Erwartungen bot sich diese Pflanze bereits im frühen Mittelalter dafür an, aus ihren Fasern einen sehr feinen und geschätzten Stoff herzustellen, der der Seide durchaus ähnelte. Fischer gibt freilich selbst zu, dass uns bis heute die Kenntnisse darüber fehlen, wie die Fasern aus den Brennnesselstängeln entfernt wurden, aber er versammelt genügend Belege um zu beweisen, dass Brennnesselstoff recht weit verbreitet war und als ein wertvolles Textil angesehen wurde, das man sogar bei der Beerdigung als Leichentuch verwendete. Es kam aber oftmals auf die Bearbeitungsweise der Fasern an, was erklären würde, wieso Albertus Magnus den Nesselstoff als juckend beschrieb, was gar nichts mit den Giften an den Blättern zu tun haben konnte. Der Autor macht uns daher auf die verschiedenen Stofftypen aufmerksam, denn es gab schon im späten Mittelalter Importe von Ramietuch aus Indien, das aber nicht als besonders haltbar galt, obwohl es einen großen Eindruck machte. Nesselstoff verlor aber genauso wie der aus Leinen radikal an Marktanteilen, als im 19. Jahrhundert die Baumwolle globale Dominanz gewann, die dann von den neuen Spinnmaschinen und Webstühlen verarbeitet werden konnte.
Hierauf folgen Untersuchungen der Motivgeschichte in der Religions-, Literatur- und Kunstgeschichte, die ein recht erstaunliches Panorama von einschlägigen Beispielen entwerfen, wonach die Brennnessel thematisch viel weiter verbreitet war als bisher angenommen. Sogar in der Mythologie und im Zauberwesen (Zaubersprüche) taucht sie häufiger auf, und aus dem Märchen ist sie gar nicht wegzudenken. Fischer warnt uns aber zu Recht davor, dem alten Mythos zu glauben, wonach ein Nesselstoff weiterhin die gleiche brennende Wirkung ausübe wie die lebende Pflanze. Die Brennhaare sterben sehr schnell ab und existieren nach der Verarbeitung der Fasern überhaupt nicht mehr. Der Mythos vom Nesselhemd sei vielmehr auf den antik-griechischen Kentaur Nessos zurückzuführen, der sich an Herakles rächte, indem er vor seinem Tod etwas von seinem Blut der zweiten Frau des Herakles, Deianeira gab, ihr versichernd, es sei ein sicheres Liebesmittel. Aber es bedeutete den qualvollen Tod des Widersachers.
Künstler von der Renaissance bis zum 20. Jahrhundert schlossen Bilder der Brennnessel in ihre Werke ein und anerkannten sie daher in ihrem symbolischen Wert. Dazu gehören Piero della Francesca, Melchior Broederlam, Albrecht Dürer, Hans Weiditz und dann Curt Querner (1933), für den sie dazu diente, um seinen Protest gegen die Nazis auszudrücken, und zuletzt Pawel Chawinski (1999).
Auch der medizinische und gartenbautechnische Wert der Brennnessel kommt hier zur Sprache (insbesondere die Brennnesseljauche), und dann die fördernde Kraft von Brennnesseln, die sich auf andere Pflanzen oder Bäume (hier einen Apfelbaum) auszuwirken scheint, wobei sich Fischer dann allerdings etwas auf ein spekulatives Gebiet begibt, indem er über die Möglichkeiten von kommunikativen Verbindungen zu gegenseitiger Förderung und Warnung vor Gefahren unter Pflanzen allgemein nachdenkt.
Weiterhin verfolgt der Autor die Geschichte der medizinischen Nutzung der Brennnessel seit der Antike und dem Mittelalter (gut gegen Arthritis, Gicht, Rheuma etc.) und hebt die vielfältigen Vorteile dieser Pflanze für den Erhalt der Vitalkräfte vor allem in den dunklen Wintermonaten und bei der Behandlung von Prostata-Vergrößerungen bei Männern hervor. Auch wenn die Schulmedizin all dies eher kritisch betrachten würde, stehe jetzt - so Fischer - doch fest, dass die Brennnessel auf jeden Fall die Immunitätskräfte steigere und etwa bei Entzündungen oder Ekzemen helfe.
Zuletzt bietet Fischer noch eine Reihe von Rezepten mit Brennnesseln und stellt schließlich eine Reihe der wichtigsten Arten dieser Pflanze vor, von der es ca. 55 Gattungen und ca. 2500 Arten gibt. Den Abschluss bilden ein Anmerkungsteil und das Abbildungsverzeichnis, während ein Index bedauerlicherweise fehlt. Dieses Büchlein wirkt gerade deswegen so beeindruckend, weil es von wunderbaren farbigen Illustrationen begleitet wird. Die Lektüre, ob persönlich oder wissenschaftlich motiviert, bereitet Vergnügen und verlockt zu immer weiterem Lesen. Es verdient erwähnt zu werden, dass die hoch anerkannte Typografin und Autorin Judith Schalansky als Herausgeberin dieser Buchreihe fungierte und für den Entwurf des Einbands und der Typografie verantwortlich zeichnete. Brennnesseln schafft den erstaunlichen Spagat zwischen Unterhaltung und Informationsvermittlung. Viele verschiedene Leser werden hieran ihre Freude habe und von Fischers Untersuchungen, Experimenten und Reflexionen profitieren.
Albrecht Classen