Niko Switek: Bündnis 90/Die Grünen. Koalitionsentscheidungen in den Ländern, Baden-Baden: NOMOS 2015, 392 S., ISBN 978-3-8329-5385-0, EUR 29,90
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Marcel Bois: Kommunisten gegen Hitler und Stalin. Die linke Opposition der KPD in der Weimarer Republik. Eine Gesamtdarstellung, Essen: Klartext 2014
Matthias Müller: Die SPD und die Vertriebenenverbände 1949-1977. Eintracht, Entfremdung, Zwietracht, Münster / Hamburg / Berlin / London: LIT 2012
Erhard Eppler: Links leben. Erinnerungen eines Wertkonservativen, Berlin / München: Propyläen 2015
Heinz Niemann: Kleine Geschichte der SED. Ein Lesebuch, Berlin: Eulenspiegel Verlagsgruppe 2020
Bastian Hein: Elite für Volk und Führer? Die Allgemeine SS und ihre Mitglieder 1925-1945, München: Oldenbourg 2012
Sybille Steinbacher (Hg.): Rechte Gewalt in Deutschland. Zum Umgang mit dem Rechtsextremismus in Gesellschaft, Politik und Justiz, Göttingen: Wallstein 2016
Wolfgang Hölscher / Paul Kraatz (Bearb.): Die Grünen im Bundestag. Sitzungsprotokolle und Anlagen 1987 bis 1990, Düsseldorf: Droste 2015
Michael Weigl: Die CSU. Akteure, Entscheidungsprozesse und Inhalte einer Partei am Scheideweg, Baden-Baden: NOMOS 2013
Die Bundestagswahl 2017 hat es erneut deutlich gezeigt: Das deutsche Parteiensystem befindet sich im Wandel. Erstmals seit 1957 sitzen wieder sieben Parteien in Deutschen Bundestag. Entsprechend schwer gestaltet sich die Regierungsbildung: Die Fragmentierung der Parteienlandschaft hat zur Folge, dass Mehrheiten für etablierte Koalitionen zunehmend unwahrscheinlicher werden. Wollen sich Parteien an der Regierung beteiligen, sind sie gezwungen, sich für neue Koalitionen zu öffnen. Ein Blick auf die Länderebene zeigt, dass Bündnis 90/Die Grünen dabei sind, diese Öffnung zu vollziehen: Neben mittlerweile etablierten Koalitionen mit der SPD finden sich die Grünen nicht nur in rot-rot-grünen Dreierbündnissen wieder. Sie koalieren auch lagerübergreifend mit CDU und FDP. Vor dem Hintergrund der grünen Parteigeschichte ist diese Flexibilität in Koalitionsfragen erstaunlich, denn Debatten über mögliche Regierungsbeteiligungen führten bei den Grünen häufig zu Zerreißproben.
Der Politikwissenschaftler Niko Switek ist in seiner Dissertation der Frage nachgegangen, wie die Grünen innerparteilich Mehrheiten für neue Koalitionsformate herstellen. Dazu analysiert er die Sondierungsgespräche und Koalitionsverhandlungen der grünen Landesverbände zwischen 2005 und 2012, die nicht von vornherein auf eine rot-grüne Mehrheitsregierung zielten. Im Einzelnen sind das die (erfolgslosen) Sondierungsgespräche zwischen Grünen und CDU in Baden-Württemberg 2006, die Verhandlungen über eine rot-rot-grüne Zusammenarbeit in Hessen 2008, die erfolgreiche Regierungsbildung in Hamburg 2008, die Bildung der Jamaika-Koalition im Saarland 2009 sowie die Sondierungen und Verhandlungen, die 2010 in Nordrhein-Westfalen zu einer rot-grünen Minderheitsregierung führten.
Die Arbeit ist Teil der Reihe "Die politischen Parteien der Bundesrepublik Deutschland", deren Schwerpunkt die Analyse innerparteilicher Willensbildungsprozesse ist. Die Bände dieser Reihe weisen die gleiche Grobgliederung auf. Daher folgen der Einleitung zunächst ein knapper - solider - Überblick über die programmatische und organisatorische Entwicklung der Grünen sowie eine Darstellung der aktuellen Organisationsregeln. Im eigentlichen Hauptteil greift Switek auf den mikropolitisch orientierten Ansatz der strategischen Organisationsanalyse zurück und spitzt diesen auf Parteien zu. Er untersucht die innerparteilichen Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse anhand von vier zentralen Kategorien, die er Modalitäten nennt. Die Modalität "Deutungsschemata" bezieht sich auf die inhaltliche Dimension: Welche Rolle spielen Partei- und Wahlprogramme sowie die Positionen der innerparteilichen Strömungen bei Sondierungen und Koalitionsverhandlungen? Die Modalität "Normen" umfasst die formellen und informellen Organisationsstrukturen und Regeln der Entscheidungsfindung. In den Verhandlungen greifen die Akteure auf die Ressourcen ihrer Parteiorganisation zurück, bringen aber auch ihre individuellen Fähigkeiten ein. Dies fasst Switek in der Modalität "autoritativ-administrative Machtmittel" zusammen. Da Koalitionsverhandlungen stets mit anderen Parteien geführt werden und neue Koalitionsformen immer reges Interesse der Öffentlichkeit finden, analysiert Switek viertens auch die Einflüsse der jeweiligen Parteiumwelt und ihre Wechselwirkung mit den parteiinternen Vorgängen.
Der Hauptteil kann den Erwartungen, die die allzu ausführliche Einleitung weckt, nicht ganz gerecht werden. Switek trägt zweifellos viele Informationen zusammen und arbeitet zentrale Punkte der Koalitionsbildungsprozesse heraus. So zeigt er, dass organisatorische Merkmale, die nach wie vor wichtig für die Identität der Grünen sind, keinen Einfluss auf die Verwirklichung neuer Koalitionsformate hatten. Gleichzeitig wird deutlich, welche Rolle prominenten grünen Politikern zukam und wie viel Wert die Parteiführungen darauf legten, die Basis frühzeitig - etwa über Regionalkonferenzen im Saarland - in die Entscheidungsfindung einzubinden.
Switek geht in diesem Kapitel allerdings nicht fallorientiert vor. Er gliedert seine Ausführungen nach den oben skizzierten Kategorien. Die strikt systematische Darstellung wechselt ständig zwischen den einzelnen Landesverbänden. Das hat zwei negative Folgen: Zum einen kann der Leser die Entwicklungen in den einzelnen Ländern nur schwer nachvollziehen, weil die betreffenden Informationen über das ganze Kapitel verstreut sind. Zusammenhänge und Wechselwirkungen werden nur bedingt sichtbar. Zum anderen führt diese Darstellungsweise dazu, dass Switeks Ausführungen, gemessen an seinem eigenen Anspruch, vergleichsweise oberflächlich bleiben. Erweckt er in der Einleitung noch den Eindruck, durch die mikropolitisch orientierte Herangehensweise die für die Koalitionsentscheidungen der Grünen relevanten Vorgänge möglichst detailliert und kleinteilig zu analysieren, präsentiert er im Hauptteil teilweise nur die Ergebnisse dieser Prozesse. Er schildert beispielsweise nur, wer die jeweiligen Spitzenkandidaten der Grünen in den einzelnen Wahlkämpfen waren, über den Auswahlprozess und die damit verbunden Konflikte und Durchsetzungsstrategien der Akteure erfährt man dagegen wenig.
Alles in allem gibt die Studie einen fundierten Einblick in die inneren Verhältnisse von Bündnis 90/Die Grünen. Switek analysiert die vorhandenen Machtstrukturen und die Spezifika, durch die sich die Grünen von den anderen Parteien unterscheiden. Durch die Integration der historischen Perspektive wird zugleich deutlich, wie sehr sich die Grünen seit ihrer Gründung gewandelt und in organisatorischer Hinsicht den etablierten Parteien angenähert haben. Die Analyse der Koalitionsverhandlungen in den Ländern zeigt, wie komplex sich die Willensbildung in der Partei gestaltet. Umso bedauerlicher ist die Tatsache, dass die Studie nicht frei von handwerklichen Schwächen ist. Ärgerlich sind nicht nur die auffällig vielen Rechtschreib- und Grammatikfehler. Auch wäre es geboten gewesen, sorgsamer mit Zitaten umzugehen. Oft sind sie nicht in den Text integriert und stören den Lesefluss. Zudem lässt sich gerade im ersten Teil der Arbeit nur durch einen Blick in die Fußnoten und Recherchen im "Quellenverzeichnis" ersehen, ob es sich um die Sicht eines grünen Akteurs handelt oder ob Switek Standpunkte der Forschung wiedergibt. Da im "Quellenverzeichnis" allerdings nur die vom Autor geführten Interviews separat ausgewiesen werden, die restlichen Materialen aber undifferenziert unter der Rubrik "Literatur und weitere Quellen" aufgeführt werden, fällt die Zuordnung nicht immer leicht. Ermüdend sind auch zahlreiche Überschneidungen und Wiederholungen. Um nur ein Beispiel zu nennen: Obwohl Switek bereits im ersten Kapitel viel Zeit und Raum darauf verwendet, seine Methode darzulegen und die Modalitäten zu beschreiben, finden sich im vierten Kapitel dazu erneut umfangreiche Ausführungen. Eine Straffung dieser Passagen hätte mehr Raum für die Analyse innerparteiliche Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse gelassen. Sollte das Buch neu aufgelegt werden, wäre eine Beseitigung dieser Unebenheiten wünschenswert.
Richard Büttner