Magdalena Bushart / Agnieszka Gąsior / Alena Janatková (Hgg.): Kunstgeschichte in den besetzten Gebieten 1939-1945 (= Brüche und Kontinuitäten; Bd. 2), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2016, 327 S., ISBN 978-3-412-50168-6, EUR 45,00
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Untersuchungen zur Kunstgeschichte und Denkmalpflege in der Zeit des Nationalsozialismus konzentrierten sich bisher weitgehend auf Entwicklungen im Deutschen Reich. Wenn aber der Blick auf Staaten gerichtet wurde, die ab 1939 schrittweise annektiert oder besetzt wurden, überwog stets das Interesse für die dann dort agierenden deutschen Institutionen und Akteure. Der vorliegende Sammelband erweitert diese Perspektive wesentlich. Er ging aus einer internationalen Tagung hervor, die 2012 in Berlin im Ergebnis einer Kooperation zwischen dem Fachgebiet Kunstgeschichte der Technischen Universität Berlin und dem Geisteswissenschaftlichen Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas an der Universität Leipzig stattfand. Hier nun werden nahezu sämtliche durch die Deutschen besetzten europäischen Gebiete als Orte komplexer diskursiver, institutioneller und personeller sowie - im denkmalpflegerischen Bereich - praktisch-technischer Konstellationen und Entscheidungen erforscht, die durch die Besetzten und Besatzer gleichermaßen gestaltet wurden. Das Interesse der vierzehn Beiträge gilt sowohl den vor Ort etablierten lokalen "Kunstgeschichten", die unter den Bedingungen der Besatzung und den damit einhergehenden Beschränkungen weiterarbeiteten, als auch der politisch und ideologisch bestimmten "Kunstgeschichten" der Besatzer. Die beiden Seiten werden sowohl in ihren jeweiligen eigenständigen Bemühungen und Tätigkeiten als auch in ihrer wechselseitigen und spannungsvollen Zusammenarbeit erörtert.
Das Themenspektrum des Bandes ist breit und vielfältig. Es umfasst die Denkmalpflege, den Kunstschutz, die Museums- und Ausstellungspolitik und Aktivitäten der universitären Institutionen ebenso wie kunsthistorische Diskurse und die Rolle der Kunsthistoriker als Autoren von Expertisen, Publikationen und Vorträgen, sei es im Dienste der Politik und Kulturpropaganda der Besatzungsmacht oder als Mittel des Widerstandes und der Selbstbehauptung auf Seiten der Besetzten. Das Nebeneinander von Beiträgen zu Ländern in West-, Süd, Nord- und Osteuropa macht die unterschiedlichen Voraussetzungen und Sachlagen, mit denen sich die jeweilige lokale und die deutsche Kunstgeschichte auseinanderzusetzen hatten, sowie das hierdurch geprägte, jeweils besondere Verhältnis deutlich. Die Erklärung für die auf diese Weise sichtbar werdenden Differenzen zwischen den einzelnen Ländern liegt vordergründig in den Zielen, wie sie von den Vertretern des Deutschen Reiches im Hinblick auf das jeweilige besetzte Land generell formuliert sowie mit entsprechenden Strukturen umgesetzt wurden.
Die Beiträge zu Belgien und Holland auf der einen und zu osteuropäischen Ländern auf der anderen Seite machen diese Unterschiede erkennbar. Das besetzte Belgien und Holland (Aufsätze von Christina Kott und Marieke Kuipers) zeigen sich als Schauplätze diverser Formen von Konfrontation und Kooperation im Bereich der Denkmalpflege und des Kunstschutzes. Als prägender Faktor wirkte sich dabei die Tatsache aus, dass die vorhandenen nationalen Institutionen für beide Bereiche zuständig blieben und bis zu einem gewissen Grad von der deutschen Militärverwaltung unabhängig agieren konnten. Den Widerstand gegen die durch die Okkupation geschaffene Zwangslage begleitete die Bereitschaft, in Deutschland entwickelte Ideen aufzunehmen; deutsche Experten wiederum erkannten in der Auseinandersetzung mit zerstörten Städten und Denkmälern ein fachliches Experimentierfeld.
Die Lage in den ost- und ostmitteleuropäischen Ländern, denen im Buch viel Raum gewährt wird, stellte sich grundsätzlich anders, aber nicht einheitlich dar. Sämtliche auf den Osten Europas ausgerichtete Aktivitäten deutscher Institutionen und Akteure hatten unmissverständlich zum Ziel, die Politik der nationalsozialistischen Expansion zu legitimieren und die historische Rechtmäßigkeit des Anspruchs auf die besetzten bzw. eroberten Gebiete - bis zur Krim - zu beweisen. Die Beiträge des Sammelbandes liefern zu diesen historischen Vorgängen eine Fülle von Perspektiven und Ansätzen. Es werden wissenschaftlich gemeinte Diskurse behandelt (Robert Born über Hermann Phleps und dessen politische Förderer; Juliane Marquard-Twarowski über Dagobert Frey), die vielseitigen Aufgaben neuer Institutionen, wie sie in den dem Reich eingegliederten Teilen Polens eingerichtet wurden, erörtert (Sabine Arend über das Kunstgeschichtliche Seminar der Reichsuniversität Posen und dessen Leiter Otto Kletzl) und es wird die Museumspolitik der Deutschen in Prag nach 1939 mit Blick auf Personal, Bestände und Exposition untersucht (Alena Janatková). Die Aufsätze über die im Jahr 1941 veranstaltete Propagandaausstellung "Deutsche Größe" in Prag (Volker Mohn) und über die Tätigkeit Karl Hans Essers in Baltikum (Jens Hoppe) verdeutlichen die Rolle der mit dem nationalsozialistischen Machtapparat verbundenen, insbesondere der von Alfred Rosenberg geleiteten Organisationen und Einrichtungen.
Die Handlungsspielräume der lokalen Kunsthistoriker gestalteten sich unterschiedlich. Die bereits erwähnte Untersuchung von Janatková thematisiert unter anderem die prekäre Lage der tschechischen Fachkräfte (Josef Cibulka), die zwischen Widerstand und Anpassung taktieren mussten. Auf bisher kaum bekannte Verhältnisse in Litauen macht Giedrė Jankevičiūtė aufmerksam. Sie widmet sich der vergleichsweise kurzen Phase in der komplexen, ja dramatischen Biografie des in München bei Wilhelm Pinder ausgebildeten Mikalojus Vorobjovas, der während der deutschen Okkupation in Litauen durch die Besatzer gefördert wurde. Für Polen hingegen lässt sich eine entschiedenere Trennung zwischen den Welten der Besatzer und der Besetzten beobachten. So stellt Agnieszka Gąsior in ihrem Beitrag dem ausschließlich mit deutschen Wissenschaftlern besetzten Institut für deutsche Ostarbeit in Krakau die Untergrundtätigkeit polnischer Fachleute als Forscher, Lehrer und Denkmalpfleger gegenüber. Unterschiedlich hierzu stellte sich die Situation in Schweden dar, das seine staatliche Unabhängigkeit wahren konnte. Inga Lena Ångström Grandien stellt das Werk des Kunsthistorikers Andreas Lindblom als dessen "private war" gegen die Vereinnahmung der schwedischen Kunst durch die "große deutsche Kultur" vor. Die Erörterung der Verhältnisse in Italien vor und während der Okkupation (Christian Fuhrmeister, Almut Goldhahn) sowie ein Beitrag zu Wilhelm Pinders Tätigkeit als Vortragender im Dienste der Kulturpropaganda im Ausland (Magdalena Bushart) bereichern das Buch wesentlich.
Der besondere Wert des Sammelbandes liegt darin, dass der Gegenstand der Kunstgeschichte in den besetzten Ländern aus der Perspektive verschiedener Länder und vor einem europäischen Hintergrund in Augenschein genommen wird und dabei die Interdependenzen zwischen deutschen und den jeweiligen lokalen Kunstgeschichten ergründet werden. Die bisher nicht ausreichend wahrgenommene Bedeutung dieser Problematik wird anschaulich vorgeführt, und es werden Anstöße gegeben, diese in einer transnationalen Perspektive zu erforschen. Gleichwohl macht sich im Band auch eine Diskrepanz bemerkbar. Diese besteht zwischen den mustergültigen Studien des Bandes, die sich der komplexen Methoden wissenschaftshistorischer NS-Forschung bedienen und zumeist die deutsche Seite der Geschichte reflektieren, und Defiziten, wie sie sich leider in der Erforschung der jeweiligen lokalen Kunstgeschichten in den besetzten Ländern zeigen. Die vorgelegte Publikation wird hoffentlich als Ansporn wirken, erweiternde und tiefgreifende Untersuchungen dieses noch vernachlässigten Forschungsfeldes in Angriff zu nehmen.
Adam S. Labuda