Hans Belting / Andrea Buddensieg: Ein Afrikaner in Paris. Léopold Sédar Senghor und die Zukunft der Moderne, München: C.H.Beck 2018, 287 S., 36 Farb-, 32 s/w-Abb., ISBN 978-3-406-71830-4, EUR 28,00
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"Afrikanisiert Euch!" heißt es derzeit in der zeitgenössischen Kunst. [1] Marrakesch gilt als das neue Kunstzentrum, in Kapstadt wurde soeben ein Museum of Contemporary Art Africa eröffnet, und die Kuratoren der diesjährigen Berlin Biennale, die aus Johannesburg, Kampala und Sâo Paulo anreisen, werden in den Feuilletons mit trendigen Grußformeln wie "Kunst ist das neue Schwarz" willkommen geheißen. Von entscheidender Bedeutung ist Afrika als Bezugspunkt, Kooperationspartner und Projektionsort auch dort, wo es um die Zukunft des europäischen Kulturbesitzes geht. Während der französische Präsident Emmanuel Macron soeben die Kunsthistorikerin Bénédicte Savoy und den Wirtschaftswissenschaftler Felwine Sarr damit beauftragt hat, einen Plan zur Restitution der geraubten Artefakte Afrikas auszuarbeiten, wird in Berlin noch heftig um ein schlüssiges Konzept für die Präsentation der ethnologischen Sammlungen im künftigen Humboldt Forum gerungen. Just in diesem Moment schlagen Hans Belting und Andrea Buddensieg hellsichtig einen Perspektivwechsel vor. Welcher Stellenwert kommt der europäischen Kunst, welcher den Stammesmasken in Afrika zu? War in der postkolonialen Kulturpolitik je von einer spezifisch afrikanischen Kunst die Rede? Gab es in Afrika - analog zum "Manifesto Antropófago" (1928) des brasilianischen Schriftstellers Oswald de Andrade - ausformulierte Alternativen zur europäischen Moderne, die nach dem Siegeszug der Global Art in Vergessenheit zu geraten drohen?
Davon überzeugt, "dass die Zukunft die Zukunft des Vergangenen, das heißt, Geschichte ist", wie Siegfried Kracauer es einst treffend formulierte [2], wählen Hans Belting und Andrea Buddensieg den Ansatz einer 'offenen' Biografie, die notwendigerweise fragmentarisch bleiben muss, und fordern eine Revision des wegen seiner frankophilen Haltung als Neokolonialist verschrienen senegalesischen Dichters, Kulturpolitikers und Staatspräsidenten Léopold Sédar Senghor (1906-2001). Ihre Mikro-Studie "Ein Afrikaner in Paris" gliedert sich in drei Kapitel. Zunächst werden Senghors Herkunft, Ausbildung und Werdegang geschildert. Dann folgt eine historische Einordnung des Kunstbegriffs, den Senghor, der von Jean-Paul Sartre 1948 mit dem zweifelhaften Ehrentitel "Schwarzer Orpheus" bedacht wurde, in Paris kennen gelernt, auf die darstellenden Künste ausgedehnt und als Kulturpolitiker um eine soziale Komponente erweitert hat. Schließlich wird das "Premier festival mondial des arts nègres", das 1966 in Dakar stattfand und Senghors Konzept der Nègritude in eine performative Praxis überführte, als Modell eines postkolonialen Aufbruchs untersucht. Überlegungen von Simon Njami aufgreifend, zeigen die Autoren, in welchem Maße Senghors kulturpolitische Aktivitäten in Senegal von ästhetischen Prämissen geprägt waren, die ihm aus Paris vertraut waren. Eine derart umfassende Studie der von Senghor eingeführten staatlichen Lenkungsinstrumente in Kunst und Kultur, die städtebauliche Maßnahmen, die Etablierung von Ausstellungshäusern und die Einrichtung von Kunsthochschulen in Dakar umfassten, lag bislang im deutschsprachigen Raum nicht vor.
Dennoch ist dieses Buch weniger die im Klappentext ankündigte "erste umfassende Würdigung Senghors und seines Lebenswerks in deutscher Sprache" [3], als vielmehr eine kritische Rekonstruktion von Senghors im deutschsprachigen Raum wenig bekanntem, weil letztlich missglücktem Versuch, Afrika eine impulsgebende Rolle in der Geschichte der modernen Kunst zuzuschreiben. Statt ein abschließendes Urteil über Senghors Vision einer Civilisation de l'universel fällen zu wollen, die er "dem falschen Universalismus der Kolonialmächte entgegensetzte" (24), sehen Belting und Buddensieg ihre Aufgabe darin, ihre Leser für einen blinden Fleck der europäischen Kunstgeschichte zu sensibilisieren: Sie beleuchten die Einbindung anerkannter europäischer Künstler der Moderne in eine sich in Senegal formierende Institutionalisierung afrikanischer Kunst. Diese Sicht verdanken sie einer Begegnung mit einem von Senghor geförderten Künstler: "Ein Schlüsselerlebnis war der Atelierbesuch bei Pierre Soulages im Jahr 2008, bei dem der Künstler ein nie gesehenes Exemplar seines Katalogs von 1974 für Dakar überreichte. So stießen wir auf die Tatsache, dass Pariser Stars wie Picasso und Soulages in den 1970er Jahren in Senegal im Musée Dynamique, dem 'neuen Tempel der Kunst' ausgestellt waren." (11)
Den Kern des Buches bildet das mit Fotografien aus den 1960er- und 1970er-Jahren reich bebilderte dritte Kapitel. Die Autoren können darin plausibel machen, dass das dreiwöchige "Premier festival mondial des arts nègres" weit mehr war als eine Kunstausstellung. Senghor setzte alles daran, den identitätsstiftenden Faktor dieses Festivals für seine Zwecke zu nutzen. In Dakar sollten sich sämtliche Kulturen Afrikas versammeln, um bei Musik und Tanz die Quellen ihrer Nègritude zu feiern. Dass es - insbesondere nach der Zäsur, die der Algerienkrieg markierte - kein leichtes Unterfangen war, Einigkeit zu demonstrieren, lässt sich schon daran ablesen, dass die Eröffnungszeremonie dreimal verschoben werden musste, bevor Senghor, der inzwischen innen- wie außenpolitisch unter Druck geraten war, am 31. März 1966 in Dakar die Regierungschefs vieler afrikanischer Staaten, darunter auch Kaiser Haile Selassie aus Äthiopien, begrüßen konnte. Kurz darauf, am 4. April 1966, dem Nationalfeiertag Senegals, wurde im Stadion L'Amitié ein Pièce historique aufgeführt. Vor der Kulisse eines afrikanischen Dorfes verwandelten 250 Schauspieler und 50 Tamtam-Trommler die historischen Proteste gegen die französischen Kolonisatoren in ein Reenactment, ein theatrales Spektakel.
Der Zwiespalt, in den sich Senghor mit seinem Konzept der Nègritude manövriert hatte, wurde unübersehbar. Nicht zuletzt in der modernen bildenden Kunst. Dieser dichtete Senghor - durch eine taktische Volte, die von Theoretikern der postcolonial studies bis heute als peinlicher Akt der Unterwerfung und als ein Festhalten am Essentialismus gedeutet wird - einen afrikanischen Ursprung an. Im Musée Dynamique, einer pünktlich zum Festival eingeweihten Kunsthalle, die mit Mitteln der UNESCO finanziert worden war, illustrierten Ausstellungen Senghors Traum von einem "schwarzafrikanischen Griechenland". Die perfekt inszenierte Schau "L'Art Nègre", die selbst dem von seiner kulturellen Überlegenheit überzeugten André Malraux Anlass gab, seine Vorstellungen von einem "Imaginären Museum der Weltkultur" zu überdenken, drehte, so die Autoren, "die koloniale Aneignung der afrikanischen Plastik gleichsam um und zeigte diese als Leihgaben. Die Skulpturen werden in Senghors Eröffnungsreden als 'Heimkehrer' begrüßt." (187)
Diese 'Heimkehrer' sollten Senghors These von einer Civilisation de l'universel, die ihren Ursprung in Abessinien habe, untermauern. Das kulturelle Erbe Abessiniens - und damit Äthiopiens - sei für Afrika ebenso grundlegend wie die griechische Antike für Europa. Die Verheißung der Moderne liege in einer Métissage, einer geglückten Verbindung beider Weltkulturen im Mittelmeerraum. Anlässlich der Ausstellung "Picasso en Nigritie" im Musée Dynamique präzisierte Senghor 1972 seine Auffassung von der Moderne noch einmal. Picasso, ein aus dem Mittelmeerraum stammender Künstler, habe einen Weg gefunden, die westliche Kunst von ihrer Fixierung auf die Nachahmung der Natur zu befreien, als er im Pariser Trocadéro unter den magischen Einfluss afrikanischer Masken geriet. Seine moderne Malerei sei mithin das Paradebeispiel einer geglückten Métissage.
Es ist das Verdienst der Autoren, dass sie auf "ihrer Reise ins Ausland", als die Kracauer die Geschichtsschreibung bezeichnet hat [4], vielfältige verschüttete Bezüge zwischen europäischen und afrikanischen Künstlern, Literaten und Kulturpolitikern freigelegt und dadurch die Debatte um die uneingelösten Potenziale der Moderne [5] bereichert haben. Ein Manko jedoch ist es, dass sie keine Fäden zu den bereits vorliegenden Einzelanalysen der letzten Jahre [6] spinnen, sodass der Versuch einer Rehabilitierung Senghors und die von Frantz Fanon vorgegebenen Perspektiven der postcolonial studies noch immer scheinbar unvereinbar nebeneinander stehen. Nach der Relektüre von Senghors kulturpolitischen Ansätzen ist allerdings eines gewiss: Der an Europäer gerichtete Aufruf "Afrikanisiert Euch!" und die Bereitschaft der zeitgenössischen Kunst, gen Afrika zu schauen, hätten Senghor gefallen.
Anmerkungen:
[1] Niklas Maak: Afrikanisiert Euch!, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Feuilleton, 08.03.2017.
[2] Siegfried Kracauer: Geschichte - Vor den letzten Dingen, hg. v. Ingrid Belke, Frankfurt am Main 2009, 14.
[3] János Riesz, der in Bayreuth Afroromanistik lehrte, untersuchte 2006 anlässlich des 100. Geburtstags Senghors dessen Rolle im Prozess der Dekolonisation Afrikas und der Karibik. János Riesz: Léopold Sédar Senghor und der afrikanische Aufbruch im 20. Jahrhundert, Wuppertal 2006.
[4] Kracauer 2009, 92.
[5] Themenheft "Moderne, reloaded", hgg. v. Sabine Maria Schmidt / Sabine B. Vogel, Kunstforum international, Bd. 252, Februar / März 2018.
[6] Vgl. Christian Kravagna: Encounters with Masks. Counter-Primitivism in 20th-Century Black Art, in: Art History and Fetishism. Global Shiftings in Media and Methods, hgg. v. Gabriele Genge / Angelika Stercken, Bielefeld 2014, 189-204; Christiane Kruse (Hg.): Maske, Maskerade und die Kunst der Verstellung. Vom Barock bis zur Moderne, Wiesbaden 2014; Achille Mbembe: Kritik der schwarzen Vernunft, Berlin 2014; Viktoria Schmidt-Linsenhoff: Der Hof von Dakar. Politische Ästhetik in der Postkolonie, in: Blindheit und Hellsichtigkeit: Künstlerkritik an Politik und Gesellschaft, hg. v. Cornelia Klinger, Berlin 2014, 264-284.
Annette Tietenberg